Der vaterländische Krieg im O-Ton

■ Philharmonisches Staatsorchester spielte in der Glocke Schostakowitschs achte Symphonie

Wenn die ersten Takte der nach der Evakuierung Dmitri Schostakowitsch aus dem belagerten Leningrad entstandenen achten Symphonie verklungen sind, wähnt man sich mitten im sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park zu Berlin. Erhabene, feierliche Monumentalität umgibt den Hörer. Faszination und Widerwille regen sich. Dem Mythos vom großen vaterländischen Krieg mit dem genialen Schlachtenlenker Josif Wissarionowitsch in eine einstündigen Symphonie gekleidet, blickt der sensible Konzertbesucher doch mit Grauen entgegen.

Grauen in der Tat erwartet einen, doch nicht Treptows heldisch dreinblickende Rotarmisten oder gar Wolgograds schwertschwingende „Mutter Heimat“ künden von gewonnenen Schlachten. Zu hören ist vielmehr eine an Intensität kaum eindringlicher denkbare Reflexion über Gewalt, Leiden, Hoffnung und Resignation. Apokalyptisch bricht Krieg und Zerstörung über den Zuhörer herein: kaum aushaltbar, nicht gewaltig, sondern gewaltsam und terroristisch. Nirgendwo ein heldenhafter Rotarmist, der die Fahne des Sieges hisst.

Drei Facetten der Gewalt überrollen den entsetzt staunenden Hörer: im ersten Satz lähmt ihn eine monumentale Walze aus Stahl und Feuer, der zu entrinnen nicht möglich ist. Im zweiten wird er zum Spielball einer sinnentleert rotierenden, alles zermalmenden Maschine und im dritten treibt ein operettenhaft aufgeblasener Sadist seine zynischen und tödlichen Späße mit ihm. Zum Tod-Lachen. Das Erschrecken über den kompositorisch exakt kalkulierten Ausbruch von zerstörerischer Kraft verfolgt den zerstörten Hörer noch lange.

Die noch in der ein Jahr früher entstandenen „Leningrader Symphonie“ auskomponierte Transformation des Entsetzens in melancholische Trauer und verhaltenen Optimismus ereignet sich hier nicht. Der Versuch des Komponisten, im Schlusssatz die Rücckehr in den friedlichen Alltag zu beschwören, misslingt. Das Werk löst sich in Stille mit ratlosem Achselzucken auf.

Die philharmonische Gesellschaft hatte in der Glocke mit dem aus dem Libanon stammenden Amerikaner George Pehlivanian einen Dirigenten gefunden, der diesem Werk mit einem guten Schuss Naivität zu Leibe rückte. Er ließ gemessen schreiten, wo strenger Schritt angesagt war, er lockte den Streichern gefühlvolle Töne, wo ich Kälte höre, und brillierte mit detailgenauem Ausarbeiten von Effekten, die „ unbearbeitet“ tiefer wirken. Und er genoss ausdauernd das fünffache Forte, wo ein Vierfaches das Fünffache hätte eindringlicher machen können.

Entschädigt wurde man durch sein Gespür für Klangfarbenentwicklungen. Dennoch eine beeindruckende Leistung des Dirigenten und des Philharmonischen Staatsorchesters, die punktuelle Ungenauigkeiten in der Schlagzeugbatterie und im Streicherapparat vergessen machten.

Mario Nitsche