Auf den Spuren von Mrs. Dalloway

■ Wiederentdeckung Virginia Woolfs und eines Klassikers der Moderne: Heute liest Michael Cunningham in der Zentralbibliothek aus seinem neuen Roman „Die Stunden“

Am 13. Juni 1923 macht sich eine 52-jährige Dame auf den Weg durch die Straßen Londons, um einen Strauß Blumen für eine Party zu kaufen. Unter der Federführung Virginia Woolfs wurde aus der Schilderung dieser Besorgung und der trügerisch alltäglichen Gedanken ihrer Heldin, einer gewissen Mrs. Dalloway, eine Studie über die Fragilität gesellschaftlicher und geschlechtlicher Konventionen. Der Roman gilt als einer der Klassiker der literarischen Moderne, was sich vor allem der von Virginia Woolf selbst so genannten „Tunnel-Methode“ verdankt, mit der sie danach trachtete, ins Innerste menschlicher Erfahrung vorzudringen.

In seinem Roman Die Stunden wagte sich Michael Cunningham an eine Wiederholung des Themas und der Methode, allerdings mit einigen Variationen. In drei kunstvoll miteinander verwobenen Handlungssträngen schildert er die Tage dreier Frauen, die auf unterschiedliche Weisen um ihre Selbstverwirklichung ringen. „Mrs. Woolf“, das erste Kapitel, handelt von Virginia Woolf selbst, die 1923 an den Anfangssätzen von Mrs. Dalloway feilt. Cunningham zeigt, mit welchen Ablenkungen und häuslichen Problemen die Schriftstellerin zu kämpfen hatte. Das zweite Kapitel, „Mrs. Brown“, handelt von der Hausfrau Laura Brown, die 1949 diese Sätze in Los Angeles liest.

Laura ist wie ihre literarische Vorgängerin verheiratet und hat ein Kind, ihre Gedanken an diesem Junitag kreisen um ganz normale Besorgungen und eine Geburtstagstorte, die sie für ihren Mann backen will. Doch unterhalb dieser Alltagsgedanken werden Ängste und Depressionen sichtbar, Gedanken an Flucht und alternative Lebensentwürfe, die sich mit Woolfs Roman verbinden. Das dritte Kapitel, „Mrs. Dalloway“, spielt im New York der Gegenwart. Der Tagesablauf der gutsituierten Lesbe Clarissa Vaughan, deren Spitzname „Mrs. Dalloway“ ist, läuft parallel zu dem ihrer literarischen Namensvetterin: Ein Besorgungsgang für eine abendliche Party führt sie durch die Straßen New Yorks und konfrontiert sie schließlich mit ihrer Vergangenheit.

Wie seine große Vorgängerin schafft es Cunningham, anhand von alltäglichen Szenen und Begebenheiten existenzielle Nöte und unterdrückte Wünsche sichtbar zu machen. Jeder Moment im Leben seiner Heldinnen birgt die Ahnung eines anderen Lebens, eine Ahnung, wie sie einem auch große Literatur manchmal gewährt. Kunstvoll greift Michael Cunningham Motive und Geschehnisse aus Mrs. Dalloway auf und lässt sie verschiedene Variationen mit oft nur geringen Differenzen durchlaufen. So entsteht aus dem schmalen und transparent geschriebenen Roman ein dichter literarischer Kosmos, der auf jeder Seite nicht nur die Abgründe seiner faszinierenden Frauenfiguren, sondern auch den Geist Virginia Woolfs beschwört. Volker Hummel

heute, Zentralbibliothek, Große Bleichen 25, 20 Uhr; Michael Cunningham: „Die Stunden“, Luchterhand, München 2000, 304 Seiten, 39,80 Mark