Narrative Ordnungsliebe

„Wenn du eine nur fürs Bett willst, dann gehst du die Sache anders an“: Antonia Lerchs Dokumentarfilm „List und Liebe“

Kurze Beratung vor der Disko. „Meine Favoritin ist die mit dem weißen Jackett und dem engen schwarzen Top“, sagt der junge Mann mit den blondierten Haaren: „Die hat zwar wahrscheinlich kein Niveau, aber ...“ Sein Freund sagt: „Wenn du eine nur fürs Bett willst, dann gehst du die Sache ganz anders an“, und weil der mit den blondierten Haaren so aussieht, als ob er das nicht verstanden hat, ergänzt der Freund noch: „Willst du verführt werden oder willst du sie knallen?“ – „Ich will erst verführt werden und sie dann knallen.“

Klare Antwort. „Verführung ist ...“: Auf den ersten Blick sucht Antonia Lerch nach klaren Antworten. Darum hat die Berliner Filmemacherin ihrer Dokumentation „List und Liebe“ eine strenge Ordnung gegeben und sie aus sieben etwa gleich langen Gesprächen zusammengesetzt. Es sind kleine Minidramen, wie auf einer Theaterbühne inszeniert: Der alternde Charmeur streitet sich in einem Café mit der sinnlich veranlagten Lesbe über die Frage, ob Verführung ein strategisches Spiel sei. „Das ist Hirnwichserei“, sagt sie: „Was ist mit dem Küssen? Wenn ich flirte, will ich küssen.“ Drei junge Frauen reden auf dem Klo über Männer und wie man sie kriegt, drei junge Männer reden vor der Disko über Frauen und wie man sie kriegt. Tunten schminken sich für den Abend und reden über das Maskenspiel der Verführung, und Jutta, eine Dame mittleren Alters, wie man so sagt, beklagt sich bei ihrer Freundin Angelika darüber, dass man in ihrem Alter so schwer noch einen Mann findet, der mit einem flirtet: „Er muss ja schon sehr jung sein, damit er das aushält, wie ich bin ...“

Die einzelnen Gespräche beginnen mit einem sanften Zoom. Genauso sanft wird der Ton hochgezogen. Fade in: „... eine Umgangsform ... man muss investieren ... einen Schritt zurückgehen, sich interessant machen ... ein bisschen locker auf die Männer zugehen ... aber ... du willst ja auch nicht, dass der Mann gleich Gott weiß was denkt ... das Animalische ...“ Fade out. So funktioniert es: Der Zuschauer und -hörer wird eingeblendet in ein laufendes Gespräch, anschließend wieder ausgeblendet, und gerade dieser – durch seine konsequente Wiederholung natürlich sehr statische Effekt – führt dazu, dass die formale Ordnung des Films spätestens nach dem zweiten oder dritten Ausschnitt in den Hintergrund tritt. „Verführung ist ...“: ein einziges, langes Gespräch, ein unendliches Gespräch, das aus unendlich vielen Fragmenten immer wieder neu zusammengesetzt wird. „Verführung ist ...“: eine Sprache, die keine Ordnung kennt.

Im Gegensatz zur Sprache des Films, könnte man sagen. Erst einmal. Denn wie Antonia Lerchs Dokumentation ihre eigenen Strukturprinzipien beinahe hilflos bis zum letzten sanften Schnitt aufrechterhält und gleichzeitig unter dieser Oberfläche immer mehr Platz schafft für das, was Roland Barthes einmal „narrative Wollust“ genannt hat – dass ist das eigentliche Schöne an „List und Liebe“. Kolja Mensing

„List und Liebe“. Regie: Antonia Lerch. Deutschland 1999, 86 Min. Täglich im Filmtheater Hackesche Höfe, 19.30 Uhr