piwik no script img

Boom in der Hauptstadt der Call-Center

Rund 7.000 Menschen arbeiten in den Telefon-Zentren Berlins. Die Stadt bietet ein riesiges Potenzial an Arbeitskräften, niedrige Büromieten und Arbeitsgenehmigungen rund um die Uhr

Die Branche boomt, und Berlin lässt sich bereits als Hauptstadt der Call-Center feiern. Rund 7.000 Menschen arbeiten in mehr als 60 Telefon-Zentren. Branchenexperten erwarten, dass sich diese Zahl innerhalb einer Dekade verzehnfacht. „Wir können uns vor Anfragen kaum retten“, sagt Christina Hufeland von der Wirtschaftsförderung Berlin (WFB). Im vergangenen Jahr realisierte die WFB 58 Ansiedlungen. Mit 1.555 Stellen sprangen bei den Call-Centern dabei die meisten Jobs heraus.

Für die Hauptstadt, die unter einem radikalen Strukturwandel leidet, ist das schon viel. Schließlich ist der massive Arbeitsplatzabbau in Industrie und öffentlichem Dienst, dem seit der Wende hunderttausende Jobs zum Opfer fielen, längst nicht beendet. Kein Wunder, dass sich die Stadt an alles klammert, das den wirtschaftlichen Niedergang aufhalten könnte.

Das Zauberwort lautet: Dienstleistung. Wenn Berlin auch noch lange nicht die Struktur anderer Metropolen – Paris, London, München, Frankfurt etwa – aufweist, sind es tatsächlich einige Dienstleistungsbranchen, die wachsen: Medien und Werbung, Tourismus, Wachschutz, Call-Center.

Call-Center sind allerdings nicht gleich Call-Center. Die einen nehmen einfach Aufträge von Kunden an, andere machen Marktanalysen oder eine hoch qualifizierte Kundenberatung. Stream International, jüngst auf einer Industrie-Brache in Berlin-Tempelhof angesiedelt, betreut Kunden großer Computerhersteller. „Wir können mit den Usern am Telefon den Computer auseinander nehmen und wieder zusammenbauen“, sagt Operations Manager Andreas Petry.

Eine gängige Erklärung für den allgemeinen Call-Center-Boom: Die Produkte werden immer komplexer und differenzierter, unterliegen zudem kürzeren Zyklen. Das erhöhe den Beratungsbedarf, sagen Branchenkenner. Der steigt auch durch die Liberalisierung bisher abgeschotteter Märkte. Wo man am günstigsten telefoniert und welche Farbe Strom hat – das wollen immer mehr Menschen wissen. Typischer Job für Call-Center Agents im Inbound.

Inbound heißt, Anrufe entgegennehmen und die Kunden beraten – so gut es geht. Beim so genannten Outbound telefonieren die Call-Agents nach draußen, versuchen, mit möglichen Käufern irgend welcher Produkte in Kontakt zu kommen.

Auch im Outbound-Bereich steigt der Beratungsbedarf. Wegen des schärfer werdenden Wettbewerbs müssten potenzielle Kunden permanent betreut werden, sagt Jonas Leismann von der Agentur für Dialogmarketing (ADM). Call-Center seien dabei viel billiger und effektiver als der klassische Außendienst, zumal die Telefonkosten sinken und die Technik weiter ausreift.

Berlin scheint für Call-Center prädestiniert zu sein. Der Hauptgrund: Wegen der hohen Arbeitslosigkeit bietet Berlin ein schier unerschöpfliches Potenzial an Arbeitskräften, das jung, gebildet und kommunikativ ist. Mehr als die Hälfte der ADM-Mitarbeiter haben eine akademische Vorbildung. „Die Leute müssen flexibel im Kopf sein“, sagt ADM-Chef Thomas Steinle. Weiterer Standortvorteil für Berlin: die relativ niedrigen Gewerbemieten im innerstädtischen Bereich, die üppigen Fördermittel des Landes und die Erlaubnis zur Sonntags- und Nachtarbeit.

Ob durch den Call-Center-Boom tatsächlich Jobs entstehen, lässt sich statistisch kaum nachweisen. Die Branche verdankt ihren Boom auch der Tatsache, dass immer mehr Firmen ganze Abteilungen auslagern. Ein Beispiel für ein solches Outsourcing: die Gothaer Versicherung, deren Call-Center im Ostberliner Bezirk Lichtenberg jetzt ans Netz gehen soll. „Eilig geschulte und schlecht bezahlte Arbeitslose werden die erste Schadensaufnahme machen, das war vorher der Job der Sachbearbeiter“, schimpft Betriebsrätin Monika Lari. Bundesweit fallen nach Laris Angaben 270 Arbeitsplätze weg, in Lichtenberg entstehen 110. Lari: „Wie überall hat das Outsourcing nur ein Ziel: die Personalkosten drücken und die Tarifverträge aushebeln.“

Richard Rother

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen