Lady Musgrove und die Schildkröten

Einsam und verloren im Ozean liegt das Eiland vor der Küste Australiens. Der Turtle-Man geht hier alljährlich seiner Leidenschaft für Amphibien nach, einige Robinson-Touristen folgen ihm ■ Von Susanne Balthasar

Alles ist voll Scheiße. Weiß, krösig, stinkend. Als hätte es drei Tage Exkremente aus dem tiefblauen Himmel geregnet. Der schneeweiße Sandstrand, die Büsche und die schmalen Holzplanken, die den Weg zum Campingplatz vorzeigen, alles ist befleckt. Mit Kot und Kadaver. Vogelkadaver. Schwarze Flügel, abgerissene Köpfe, verrenkte Krähenleichen modern in der tropischen Sonne. Ein süßlich schwüler Geruch hängt über Lady Musgrove Island. Da stinken uns zwei Tage in der Hölle entgegen. Denken wir.

Alleine im Ozean. Verloren zwischen Wasserkanistern, Schnorchelmasken und Dosensuppen an einem Traumstrand am Ende der Welt. Sehnsüchtig dem Schiff hinterherschauend, das ohne uns der Zivilisation entgegenschippert. Dahin, wo Strom, Duschen und Trinkwasser sind. Auf Lady Musgrove Island gibt es nur ein biologisches Klosett, gefiederte Biester und sonst gar nichts. Denken wir. Da kannten wir den Turtle-Man noch nicht.

Turtle-Man ist der Experte, der Schildkröten-Mensch, der von den Amphibien nicht mehr lassen kann. Seit 20 Jahren schon steigt er jedes Jahr für drei Monate in dieser Einöde aus und sucht das Geheimnis der Riesenschildkröten. Mit dem Bürstenhaarschnitt und den frisch gebügelten rosa Shorts sieht der Turtle-Man zwischen den Robinson-Touristen aus wie eine Koralle im Aquarium. Er empfängt uns Neue bündig: „Sucht euch ein Fleckchen hier.“ Kein Problem, hier ist nicht viel los. Ein paar schiefe Zelte sind die einzigen menschlichen Spuren auf dem Inselchen, das man zu Fuß in 20 Minuten abwandern kann.

Schrecklich muss die Frau gewesen sein, nach der der Inselentdecker dieses Vogelparadies nannte. Lady Musgrove Island gehört zu einer Inselgruppe vor der Capricornia Küste, die 100 Kilometer vom australischen Festland entfernt das Great Barrier Reef abschließt. Wie eine Fata Morgana tauchen die Inseln nach zweistündiger Fährfahrt auf. Die meisten Besucher tauchen und schnorcheln vor Lady Musgrove Island. Nur hier ist das Korallenriff so flach unter der Wasseroberfläche, dass schon das bloße Auge die schillernden Fische und die bunten Korallenblumen durch das klare Wasser schimmern sieht. Am Nachmittag nehmen die Normal-Touristen die Fähre zurück nach Bundaberg. Kaum jemand mag auf dem winzigen Korallenatoll mitten im Meer bleiben.

„Eine ganz herrliche Insel“, schwärmt der Turtle-Man am Abend. Eine Insel, wo die Schildkröten nachts aus den Fluten kriechen und ihre wertvollen Eier tief in den staubfreien Sandstränden vergraben. Diese Eier, die so nahrhaft sind, dass alle Land- und Wassertiere danach gieren, die Nester auszuräumen. Eine Insel, wo keine Menschen leben und keine wilden Tiere den ungeborenen Schildkrötenkindern oder fetten Vögeln nach dem Leben trachten. Eine einzigartige Insel und ein einzigartiges Schauspiel, schwärmt der Turtle-Man im sanften Schein der Petroleumlampe, ob wir das nicht mal sehen wollten? Eine Wasserschildkröte beim Eierlegen?

Ein Häufchen Menschen macht sich auf: Wir Deutschen, der schöne südamerikanische Meeresbiologe und sein kanadischer Aussteiger-Freund mit dem Lederschlapphut, der Australier Tim und die beiden durchgeknallten Mädchen, Mary und Kate, die in schwarzen Spitzenkleidern durch das Gestrüpp schleichen. Eine der vielen kleinen Buchten liegt wie ein riesiger weicher Teppich am Rande des nachtschwarzen Meeres. Nur die Vögel schnarren leise.

„Pssst“, zischt der Turtle-Man und dreht sich verschwörerisch um. Tatsächlich liegt da ein riesiger Klops am Strand, auf den ständig Sandströme niederprasseln. Flink wirft sich der Turtle-Man auf die Knie, prescht sich vorsichtig heran und zieht sich wieder zurück. „This young lady“ ist noch mit Body Pitting beschäftigt, rapportiert der Krötenkenner in zackigem Tonfall. Das kann noch Stunden dauern. Er gebietet den Weitermarsch.

Body Pitting ist das erste Stadium, in dem die Schildkröte mit ihren Flossen Krater von gut einem Meter Durchmesser schaufelt. Nach rund einer Stunde beginnt das Egg Chambering, das Ausheben der kleinen Kammer, die schließlich die kostbaren Eier aufnehmen wird. So weit sei die „Lady next door“, erklärt der Turtle-Man und meint die Schildkröten-Mama einige Meter weiter.

Über das scheue Fortpflanzungsverhalten der Wasserschildkröte ist wenig bekannt. Nur an den wenigen Stränden, denen die vom Aussterben bedrohten Tiere noch ihre Eier anvertrauen, kann man die Schildkröten beobachten. Deshalb sendet die Umweltschutz-Behörde des Staates Queensland Freiwillige dorthin. Deren Aufgabe ist es, die Tiere anhand einer Marke zu identifizieren. Nach jahrelanger Beobachtung des Eierlegens hofft man, das langsame Leben der Wasserschildkröten zu enträtseln.

Der Turtle-Man bringt einen disziplinierten Forschergeist mit, denn im wirklichen Leben ist er Ingenieur für Straßenbau. Über seine zweite Existenz als Amphibienforscher sagt der Mittvierziger: „Das brauch ich als Ausgleich.“

Auch wir brauchen es. Die Augen öffnen sich gierig, einmal an die Dunkelheit gewöhnt, um das nächtliche Leben der Strände zu entziffern. Alle paar Meter liegen Wasserschildkröten lautlos schaufelnd, grabend, buddelnd. Schildkröten leben in Zeitlupe. Erst nach 30 Jahren sind sie geschlechtsreif, pflanzen sich alle sechs bis sieben Jahre fort und können bis zu 100 Jahre alt werden.

Seltsame Spuren durchziehen den Sand, geriffelt und breit, als wäre ein Panzer hier entlang gefahren. Ein Amphibienfahrzeug aus dem Meer. Wir lernen, die Spuren zu lesen. Die der ordninären Green Turtles von denen der seltenen Loggerheads zu unterscheiden, die überall aus den Fluten gerobbt sind.

Plötzlich taucht eine aus dem leise plätschernden Ozean auf. Sie schiebt sich schwerfällig die sanfte Steigung der Bucht hoch. Lautlos pirscht sich der Turtle-Man an sie heran, packt sie. Ein schrilles Quietschen zerreißt die Stille. Der Schrei der Schildkröte. Mit ungeheurer Gewalt schlägt die gepanzerte Kugel um sich, bebt und zittert wie ein vom Erdbeben gestoßener Berg.

Nichts hat dieses grob motorische Tier an Land mit der Schönen gemeinsam, die wir am Nachmittag im Meer gesehen haben. Wie eine Seiltänzerin schwebte sie auf unsichtbarer Linie durch die Mondlandschaft aus Seegurken und blühenden Korallen. Ihren schweren Körper plätscherte sie mühelos mit graziler Flosse an Seesternen und Zebrafischen vorbei. Ungerührt vom Kampfgeschrei der nun hilflos Tobenden legt der Schildkröten-Mensch ihr die Hand auf den Kopf – und sie liegt still.

Der Schildkrötenbeschwörer wird endgültig zum Ingenieur, klemmt der Schildkröte ein identifizierendes Metalldreieck um die Vorderflosse. Nummer 915. Aus seinem Armeetäschchen greift er das Klemmbrett samt Tabelle, dann werden die Personalien aufgenommen: 95 Zentimeter Panzerdurchmesser sagt das Maßband; 40 Lebensjahre sagt der Panzer. Uhrzeit und Datum werden akkurat festgehalten. Dann darf die werdende Mutter von dannen walzen.

Kann die denn jetzt noch ihre Eier legen?“, fragt Mary im Spitzenkleidchen besorgt. Selbstverständlich, bellt der Turtle-Man. In diesem Stadium bricht die Schildkröte den Prozess nicht ab. Dabei sind sie sonst so empfindlich. Endlos lange suchen sie nach einer geeigneten Stelle, der sie ihre Schätzchen anvertrauen können. Sobald sie beim Buddeln etwas wahrnehmen, brechen sie ab, gehen zurück ins Wasser und fangen im Notfall von vorne an. Bis zu sieben Tage können die sorgsamen Mütter die Eier im Bauch aufbewahren, dann müssen sie raus. Dozierend führt uns der Freund der Fakten durch die Nacht, bis wir das Gefühl haben, wir müssen die Eier legende Wasserschildkröte gar nicht mehr in echt sehen.

Doch dann liegt sie da. Wir erkennen sie sofort. Kein Sandkorn wirbelt um sie herum, denn diese junge Dame legt gerade Eier. Und jetzt offenbart sich der Sinn des quietschgelben Bauarbeiterhelmes mit eingebauter Lampe, den der Turtle-Man auf dem Kopf hat. Er leuchtet der Schildkröte auf dem Boden kniend in den Hintern und hat noch beide Hände frei.

Ein seltsamer schleimiger Schlauch hat sich unter dem Schwanz hervorgerüsselt, der sich gleichmäßig öffnet und pingponggroße Kugeln in die Eierkammer gleiten lässt. Gut 50 sind schon da, noch einmal dieselbe Menge lagert im Bauch. Die Kreißende ist schon früher einem Forscher in die Hände gefallen, sie trägt die Nummer 368. Der Vorgang wird aktenkundig gemacht.

„Streichelt die young Lady doch mal“, fordert der emsig tabellierende Turtle-Man. Ängstliche Blicke. Das sei kein Problem, versichert der Experte, schließlich sind Schildkröten fast blind und taub, so dass sie Menschen kaum wahrnehmen. Beherzt greifen wir zu, streicheln die Lederhaut der Flossen, tätscheln den unförmigen Kopf, während am anderen Ende die Eier herausfallen. Der Turtle-Man schlägt mit einem Meißel noch schnell ein paar parasitäre Muscheln vom Hornschild des Panzers, bevor er sich ein Ei aus der Sandkuhle greift: „Willst du auch mal?“ Glitschig liegt das frisch gelegte Ei in der Hand, ein wenig nachgiebig die Schale, leichter und zerbrechlicher als ein Hühnerei. Vorsichtig wird es von Hand zu Hand gereicht und dann unter dem Körper der Mutter durch in die Eierkammer zurück manövriert. Die Eier legende Schildkröte liegt da und nimmt die Menschen nicht wahr, die um sie herumstaunen. Genauso weggetreten wie Mary, die vor lauter Wunder nicht merkt, wie ihr ein frisches Vogelhäufchen durch die Spitzen ihres Kleides rinnt.