Von Tuwa in deutsche Talkshows

Das Phänomen Galsan Tschinag – Medien brauchen Mythen, beispielsweise den vom exotischen Naturkind. Je urwüchsiger und rückständiger die Geschichten um so beliebter sind sie. Zivilisationskritik als Sahnehäupchen  ■ Von Alice Grünfelder

Er trägt die traditionelle Tracht seines Volkes und kleidet seine Romane in eine ungewöhnliche Sprache. Gefeiert wird Galsan Tschinag als deutsch schreibender Mongole, doch eigentlich ist er Tuwiner. Aber wer weiß schon, wo Tuwa liegt? Tuwiner leben im Westen der Mongolei, einige auch in China, und die Republik Tuwa gehört seit 1991 zur GUS. Die meisten verehren Schamanen, manche glauben aber an den Dalai Lama als religiöses Oberhaupt. Knapp eine Viertelmillion zählt dieses zerstreut siedelnde Volk.

Galsan Tschinag bezeichnet sich selbst als „preußischen Nomaden“. Er machte sich die deutsche Sprache zu eigen, da seine eigene keine schriftliche Tradition besitzt. Die Leidenschaft zum Dichten packte ihn in Leipzig, wo er in den sechziger Jahren studierte. Seither kehrt er immer wieder nach Deutschland, seinem „Herbstlager“ zurück, weil er die Distanz zur Heimat braucht, um kreativ zu sein. So weit, so gut. Wie aber erklärt sich die Medienaufmerksamkeit nach seinem jüngsten Roman „Die graue Erde“, obwohl sein Werk bereits seit etlichen Jahren auf Deutsch vorliegt? Liegt es möglicherweise daran, dass dieser Roman eher auf ein westliches Publikum zugeschnitten ist und dessen Sehnsucht nach einem harmonischen Leben in Einklang mit der Natur stillt? Auch die unterschiedlich großzügig ausgestatteten Marketingetats der verschiedenen Verlage, die die Werke Galsan Tschinags verlegen, mögen bis zu einem gewissen Grad die Rezeption beeinflussen. Die Handlung seines neuesten, im Insel-Verlag erschienen Romans ist schnell erzählt. Der achtjährige Dshurukuwaa, der nicht einmal Mongole, sondern Tuwiner, also gleich doppelt „rückständig“ ist, will Schamane werden. Sein ältester Bruder aber, ein staatstreuer Schuldirektor, steckt ihn gegen seinen Willen in die Schule der Kreisstadt, wo er den „Weg des Wissens“ beschreiten soll. Er versteht aber kein Mongolisch, die Amtssprache, und erklärt zum Entsetzen aller, dass er Schamane werden möchte. Klug wie der kleine Junge ist, führt er fortan ein Doppelleben. Eine Wende tritt erst ein, als sein Lehrer in eine ausweglose Situation gerät und ihn um seinen schamanistischen Rat fragt, der denn auch zum Erfolg führt. Ein zweifelhafter Erfolg allerdings, auf den der Junge in der Öffentlichkeit nicht stolz sein darf, der ihm aber zeigt, wie doppelzüngig Staatsmoral sein kann. Und als die „graue Erde“ auf Anweisung der Partei hin frevelhaft aufgegraben, also verletzt wird, rächt sich der Himmel. Als wäre der Autor mit seinem Roman als Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht so recht zufrieden, mengt er dem Schluss noch einen Schuss Esoterik bei.

Mit ironischer Leichtigkeit skizziert Galsan Tschinag den Schulalltag in der Mongolei der fünfziger Jahre und zugleich ein Fallbeispiel für die Nationalitätenpolitik im 20. Jahrhundert: Die Mongolei leidet – genau wie viele andere Vasallenstaaten der Sowjetunion – an mangelndem Selbstbewusstsein und versucht dies durch übereifrige Nachahmung der sogenannten Moderne nach sozialistischem Vorbild wettzumachen. Ein Volk, in diesem Fall die Tuwiner, wird durch Zwangsumsiedlung dezimiert und verliert das Recht auf Eigenständigkeit. Sein Glaube an das Schamanentum wird der Modernisierung geopfert.

Verherrlichung der archaischen Nomadenwelt einerseits und Zivilisationskritik andererseits – der moralische Zeigefinger ist in fast allen Werken Galsan Tschinags unübersehbar. Und je urwüchsiger und mythischer seine Geschichten daherkommen, desto beliebter und erfolgreicher sind sie. In „Der blaue Himmel“ beispielsweise preist der Autor die archaische Kargheit und verhöhnt die Zivilisation.

Die Beschreibung einer solchen Welt erfordert ein anderes Vokabular, als wir es gewöhnt sind, und manche Wendung scheint wie eine Gratwanderung zwischen verklärendem Romantizismus und authentischer Darstellung. Tschinags eigenwillige Sprache – von manchen Rezensenten als kraftvoller Pathos gelobt, von anderen hingegen als fehlerhaftes Deutsch mit missglückten Metaphern gerügt – ragt wie ein Wellenbrecher empor, an dem unsere Lesegewohnheiten zerschellen. Man kann sich an den wundersamen Wortgebilden erfreuen, oder eben unwillig über sie hinweglesen. Die poetischen Bilder seiner Heimat finden jedenfalls Eingang in jedes seiner Werke, und Poesie ist für ihn wie die „Verteidigung des Steins gegenüber dem Beton“, so der Untertitel seines unlängst in Lettre erschienenen Essays. Denn eine Zeit, die frei von Pathos und Leidenschaft ist, sei ohnehin dem Untergang geweiht. Bei seinen ungewöhnlichen Wortschöpfungen und Satzkonstruktionen, die etwas ältlich anmuten, beruft sich der Autor ganz auf die Tradition der Heldenepen und -balladen. Und so wie früher die Barden von Jurte zu Jurte zogen, um diese Epen vorzutragen, zieht heute Galsan Tschinag landauf, landab von Buchhandlung zu Buchhandlung und bringt mit dem Rhythmus seiner Sprache die Geschichten zum Schwingen. Von klein an geschult, Schamanengesänge vorzutragen, weiß er sich bewusst in Szene zu setzen. Und wenn er sich gar als Abgesandter einer Epoche bezeichnet, die sich verspätet hat, dazu seinen Überwurf aus feinem Brokat in der Häfte mit einem breiten Gürtel schürzt, könnte sein Auftritt nicht medienwirksamer sein. Und die Medien benötigen offenbar gerade dieses Bild vom naturverbundenen Poeten aus den rauhen Steppen der Mongolei, um einerseits dem grauen Allerlei einen Farbtupfer aufzusetzen, und um andererseits dem mythenhungrigen Publikum wieder einmal seine eigenen Projektionen vorzugaukeln. Eine Zeitlang rissen sich Fernsehen, Radio und Talkshows regelrecht um den Dichter aus der Jurte.

Im Sommer 1996 erfüllte sich Galsan Tschinag einen lange gehegten Traum: In der größten Karawane seit Dschingis-Khan führte er Tuwiner, die im Laufe der Jahrzehnte in den Norden der Mongolei umgesiedelt wurden, mit Kamelen, Schafen und Hühnern in ihre ursprüngliche Heimat am Fuße des Altais zurück. Sein Bericht über diese Karawane will allerdings gar nicht so recht zu dem Bild passen, das die Medien von diesem „zivilisierten Wilden“ vermitteln. In seinem Reisetagebuch „Die Karawane“ schreibt er sich seine Enttäuschung über die Landsleute von der Seele und gesteht: „Ich bin einer Illusion nachgelaufen. Die gutmütigen, selbstlosen Mitglieder einer Urgesellschaft gibt es nicht.“ Das aber will hier niemand so genau wisen. Die Medien machen aus ihm einen, den sie brauchen, nämlich ein exotisches Naturkind. Sein Erfolg als Autor hat es ihm immerhin ermöglicht, mit seinen Honoraren diese Karawane zu finanzieren, jeder Familie fünf Kamele zu schenken und die Zusammenführung seines Volkes dadurch überhaupt erst zu ermöglichen. Dennoch attestiert er dem begleitenden deutschen Kamerateam neidvoll und mit einem leisen Vorwurf, dass sie die Story „ein Leben lang gut verkaufen können in ihrer Welt, die unter Erfolgszwang steht“.

Die Frage ist, inwieweit Tschinag dieses Spiel mitspielt? Einerseits weiß er die Publikumsgunst geschickt für sich zu nutzen, denn schließlich ist er ein Schamane, der die Wünsche der Ratsuchenden zu erfüllen hat. Andererseits muss auch er sich immer rückversichern, welcher Platz ihm in dieser Welt zugewiesen wurde. „In dem Maße, wie mich der archaische Osten geboren und hinausgeschickt, hat mich der moderne Westen geformt und zurückgeschickt. Bin also zu einer Brücke zwischen Welten und Zeiten geworden.“ So definiert er seine Rolle als Kulturvermittler. Und in diesem Sinne sind auch seine Geschichten als Schöpfungen zu deuten, die Wort- und Sprachgrenzen überspringen, Begriffe verdrehen und kollidieren lassen, um mit der freigesetzten Phantasie gleichzeitig das alte und ein neues Universum zu erschaffen.

Zwei Jahrhunderte nach Rousseaus missverstandener Aufforderung zur Rückkehr in die Natur und der sich zyklisch wiederholenden Sehnsucht nach einer archaischen Welt scheinen Naturverherrlichung angesichts eines Jahrtausends, das lediglich Digitalisierung verspricht, mehr denn je en vogue. Letztlich ist es dieser Romantizismus, der den neuesten Roman von Galsan Tschinag auf Bestsellerlisten hievte.

Unbeachtet bleiben hingegen all jene Geschichten, die sich nicht so leicht vereinnahmen lassen. Sie handeln von der Seele eines Volkes, das durch die historischen Entwicklungen beinahe zerstört und durch die Modernisierungen korrumpiert wurde. Das aber interessiert hierzulande nicht. Es gibt auch kleine Juwelen im Oevre des Autors, zu denen beispielsweise „Das Ende des Liedes“ zählt. Dieses handelt von einem anderen uralten Thema, nämlich von Liebe und Leidenschaft. Von einem Exoten aber erwartet man Exotisches, weil dies eher den eigenen Bedürfnissen und denjenigen des Marktes entspricht.

„Die graue Erde“ ist im Insel Verlag, „Der blaue Himmel“ im Suhrkampf Verlag erschienen. „Die Karawane“ und „Das Ende des Liedes“ im A1 Verlag. Weitere Bücher des Autors liegen beim Verlag Im Waldgut und im Unionsverlag vor.