Das Geheimnis der Schinkennudeln

Wahre Lokale (9): Der „Türkenhof“ in Münchens Türkenstraße

Es muss im schlimmen Jahr 1989 gewesen sein, da schlossen Studiocafé und Studiotheater im Fuchsbau an der Ungererstraße ihre gemeinsamen Pforten. Ein Irish Pub riss die alten Grenzen zwischen Bühnen- und Lebenskunst einfach ein, und am Tresen süffeln seitdem Harry-Rowohlt-Epigonen im Takt des Tüddellüt der Spielautomaten. Die Créme der Studio-Belegschaft, die Boheme und wir bohemehungrigen Oberschüler orientierten uns, nach anfänglichem Zögern, hin ins alte Simplicissimus-Areal, in die Türkenstraße in den „Türkenhof“. Da saßen wir dann müßig im Rücken der Universität, und viele – bildlich jetzt – sitzen da heute noch.

Nach anfänglichem Zögern: Denn der „Türkenhof“ war vor der Übernahme als Nazilokal verrufen gewesen. Nazis und Boheme hatten sich in München traditionell überlappt: Um die Ecke der „Schellingsalon“, Stammlokal eines Kitschmalers, frühen Feuchtwanger- und späteren Walser-Verehrers; die Schellingstraße noch ein Stück hoch die „Osteria“, erster Italiener Münchens und vom vegetarischen Schäferhundfreund gleichfalls gern besucht.

Jetzt zog ein Triumvirat hungriger Jungwirte aus Schwabing in die eingemeindete Maxvorstadt, riss die Vorhänge runter, sie machten was draus. Man ging rein und begriff: Bier, Umsatz, Geld. Wir zögerten, auch wegen dieser leicht ins Ikeamäßige reinragenden Verwertungsausrichtung der neuen Begegnungsstätte.

Das Triumvirat zerfiel rasch. Es ist wohl so gewesen, dass das ausgebootete Mitglied einen Freundeskreis um sich scharen wollte, und bei Freunden wird halt nicht jede Halbe Augustiner ein unerbittlicher Strich auf dem Deckel.

Der Vertrag war da aber ganz klar umrissen und fesselt bis heute die Herren Wirte aneinander. Jeden Abend macht einer der beiden die Abrechnung – und deswegen gibt es das Lokal wahrscheinlich noch. Einmal im Jahr, zum Geburtstag, gibt’s Freigetränke, das war’s. Nur wenn man sich lange nicht hatte blicken lassen, weil die Schwabing-Scheiße einem zu den Ohren herausgekommen war, um dann reumütig doch wieder aufzutauchen, dann konnte es passieren, dass man plötzlich ein irreales Freibier vor der Nase stehen hatte, samt goldenem Wirtshandschlag und der Frage, wie es einem zuletzt so ergangen sei. Wir tranken diese Biere mit Ehrfurcht, ein Ereignis, in Olympiaden gezählt.

Auswärtigen war das Geheimnis des Türkenhofs kaum zu vermitteln. Als ein Freund aus Berlin zu Besuch kam, saß er kaum zehn Minuten und wollte schon weg, ins trendige Haidhausen. Und er hatte ja Recht: Was war das hier anderes als eine Bierwirtschaft, ein Jörg-Schrödersches Muff-Lokal?

Wie hätte ich meinem Berliner Freund erzählen können, was dieser Ort vor ihm verbarg? Hätte ihn die Geschichte des erfolgreichen Jungkabarettisten interessiert, der jeden Abend der Bedienung erklärte, sie könne ihn nicht bescheißen, seine Freundin-Managerin habe ihm das Geld für zwölf „Helle“ und ein Stück Abschlusspizza im „Adria“ an der Leopoldstraße ins Portemonee eingezählt? Von den Gestalten am Tresen, die ihren unerbittlichen Alkoholismus mit großangelegten Abhandlungen für die Wochendbeilage der SZ finanzierten? Vom persönlichen Erstkonsum synthetischer Drogen auf dem Abort und der Aufforderung meines Lehrmeisters, ich solle mich bitte mit ihm auf die Kloschüssel stellen, das solle hier nicht aussehen wie auf einer Klappe? Überhaupt von der durchaus abgeschmackten Lässigkeit dieses Ortes, wo sich alle schon mal mit allen verkracht und genauso laut und öffentlich versöhnt hatten? Ein Lokal, in dem an trüben Sonntagnachmittagen kaum einen Platz zu finden war, aus dem man am frühen Abend beseelt sich verabschiedete, um gegen Mitternacht ausgenüchtert ein neues Leben mit den alten Getränken anzufangen?

1688 eroberte Kurfürst Max Emanuel, damit eine deutsche Tradition begründend, Belgrad. Er verschleppte türkische Gefangene nach München, sie hatten Zwangsarbeiten zu verrichten. Zur Entschädigung wurde eine Straße nach ihnen benannt, und nach der Straße das Lokal. Man kann dort auch essen. Die Kundschaft teilt sich in solche, die dieses Angebot wahrnehmen, und solche, die beim Bier bleiben. Das ist ein Grundsatz und hat mit Qualität nichts zu tun. Ich bin die Ausnahme und esse die noch aus dem Studiocafé überführten Schinkennudeln. Zu Hause bekomme ich sie einfach nicht so hin. Das ändert sich nie, denn im „Türkenhof“ ist es, wie es sein soll: sehr schön. Ambros Waibel