: Manövrieren zwischen Krieg und Putsch
Ethnische und religiöse Gewalt dehnt sich vom Norden Nigerias in den Süden aus. Die Zahl der Todesopfer geht in die tausende
Berlin (taz) – Chief Emeka Odumegwu Ojukwu ist eine berüchtigte Figur in Nigeria. Er war 1967–1970 Präsident von Biafra, der kurzlebigen Abspaltung des vom Igbo-Volk besiedelten Südosten Nigerias, dessen Rückeroberung durch die nigerianische Bundesarmee damals über eine Million Tote forderte. Heute macht Ojukwu wieder von sich reden, und der Südosten Nigerias auch. Denn die ethnische und religiöse Gewalt, die letzte Woche in der nordnigerianischen Stadt Kaduna ausbrach und hunderte Tote forderte, hat sich seit Montag auch auf Igbo-Städte ausgedehnt.
Pogrome gegen Nordnigerianer im Südosten, Rache für Morde an Igbos in Kaduna, forderten am Montag bereits über 50 Tote. Und mit ihnen ist die Spirale von Gewalt und Gegengewalt und von ethnischer Säuberung, die 1966–67 zum ersten Zerfall Nigerias führte, wieder in Gang gesetzt.
Für Ojukwu, heute ein Elder-Statesman der Igbo, ist die Sache klar. „Es kann nicht so getan werden, als ginge es um religiöse Dinge“, kommentierte er am Wochenende die Gewalt in Kaduna. „Ich glaube und betone, dass diese Sache politisch ist.“ Die Igbos – Nigerias drittgrößte Ethnie – müssten sich erneut fragen, ob sie gleichwertige Bürger Nigerias seien.
Die Gewalt im Südosten brach am Montagmittag aus, als Leichen von in Kaduna getöteten Igbos in der Stadt Aba im Bundesstaat Abia ankamen. Igbo-Jugendliche töteten Mitglieder des muslimischen nordnigerianischen Haussa-Volkes und zündeten ihre Geschäfte an. Die zentrale Moschee der Stadt ging in Flammen auf. Am Abend breitete sich die Gewalt auch in der Stadt Owerri aus.
Die Reaktion des Staates war so passiv wie auch sonst bei den regelmäßigen Ausbrüchen ethnischer und religiöser Gewalt. Es gebe „ein kleines Problem“, sagte der Sprecher des örtlichen Gouverneurs. Aus der 50 Kilometer entfernten Ölstadt Port Harcourt wurde die Polizei in Marsch gesetzt. Direkt vor Ort griff offenbar niemand ein.
Die Erregung der Igbos war nicht überraschend. Sie stieg in den Maße, wie sich Einzelheiten der tagelangen Pogrome in Kaduna vor einer Woche herumsprachen. Die Gewalt, die mit Angriffen von Muslimen auf eine christliche Großdemonstration gegen die Einführung des islamischen Rechts, der Scharia begonnen hatte, war viel zerstörerischer als zunächst bekannt. Die Todeszahl liegt nach Presseberichten bei über 1.000, aus Wirtschaftskreisen wird von bis zu 3.000 Toten berichtet. Große Teile der 800.000 Einwohner zählenden Agglomeration von Kaduna sind zerstört.
Nach Angaben von Igbo-Organisationen waren die meisten Opfer in Kaduna Igbos. 100.000 sollen auf der Flucht sein. Man geht davon aus, dass die Angriffe in Kaduna organisiert waren und spricht von ausländischen Islamisten als treibender Kraft. Überlebende erzählten Journalisten, dass die Polizei tatenlos zugesehen hätte, als bewaffnete Banden die Häuser anzündeten. Erst danach seien Eliteeinheiten mit Schusswaffen eingesetzt worden.
Als empörend wird auch empfunden, dass die Behörden jetzt die Leichen, die sie in Kaduna zu hunderten einsammeln, in Massengräbern bestatten. Igbo-Kulturorganisationen haben angekündigt, „ihre“ Toten zu exhumieren und nach Hause zu überführen. Es war die Ankunft der ersten dieser Leichen, die am Montag zu den neuen Gewaltausbrüchen im Südosten Nigerias führte.
Die Echos von Biafra sind da nicht weit. 1967 spaltete sich der Südosten unter Ojukwu vom Rest Nigerias ab, weil es im Norden des Landes zu Pogromen gegen Igbos, vor allem innerhalb der Armee, gekommen war. Heute spaltet die Gewalt in Nigeria nicht die Armee, sondern die Gesellschaft. Jede Ethnie, die etwas auf sich hält, hat ihre eigene Miliz, die sich aus der jeweiligen Gangsterkultur speist: Die Yorubas um Lagos haben den Oodua Peoples Congress (OPC) und die so genannten area boys, die Ijaws im Niger-Flussdelta den Ijaw Peoples Congress (APC) und den traditionellen Egbesu-Kult, die Haussas im Norden den Arewa Peoples Congress (APC) und die als al-Majiris bekannten islamistischen Jugendgruppen. Die Igbos, seit dem gescheiterten Biafra-Experiment politisch kopflos, haben noch nichts, aber das scheint sich zu ändern.
Doch ist nicht einfach eine Wiederholung der Ereignisse von 1967 zu erwarten. Zu tief sitzt das Trauma des Biafra-Krieges. Vor neuen Sezessionen würde in jedem Fall der Versuch stehen, das Land doch noch zu einen – mit der starken Hand, die der heutigen Regierung des gewählten Präsidenten Olusegun Obasanjo offensichtlich fehlt. So ist jeder Schritt Richtung Zerfall zugleich ein Schritt Richtung Militärputsch.
Nicht wenige sind davon überzeugt, dass die zunehmende Gewalt in Nigeria von den ehemaligen Militärherrschern angefacht wird, um das junge demokratische Experiment vorzeitig zu beenden. Krieg oder Putsch – zwischen diesen Polen manövriert Präsident Obasanjo, und mit jedem neuen Gewaltausbruch wird sein Spielraum enger. Dominic Johnson
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