Lecker Ziegenherz

Zurück in der Heimat: Tim Staffel las in der Volksbühne aus seinem neuen Roman

Marvin Ricken ist Epileptiker. Das ist nicht so schlimm, wie es sich anhört. Manchmal kommen ihm die Anfälle sogar ganz gelegen. Zum Beispiel, als er mit Tizian eine Bank besucht. Mit Pistolen. Für einen Existenzgründungskredit. „Das ist kein Plauderstündchen“, sagen die Polizisten hinterher, und Marvin sagt ganz einfach: „Schon was von Epilepsie gehört? Gedächtnislücke.“

Nach dem Überfall unternehmen die beiden eine Reise. Vielleicht ist es eine Reise nach innen. Oder eine Reise nach Südosteuropa. Auf jeden Fall fahren sie viel Auto, und sie erleben viel Grausames. Ein Mann isst ein Ziegenherz. Einem anderen guckt das abgebrochene Bein aus der Hose. In einem Päckchen liegt eine Hand. Cem, der Tizian und Marvin bald begleitet, hat dazu auch nicht viel zu sagen. Frauen gibt es auch: Ayla, dunkel, schön und geheimnisvoll, aber irgendwie unauffindbar, Mascha wie Pony Hütchen, immer sagt sie: „O Gnade.“ Tizian hängt eigentlich an Lilli. Und Dirty Daisy hat ihrem Mann den Schwanz abgeschnitten; dafür existiert sie auch nur in einer Nebenwelt. Sex, drugs and crime, aber Marvin und die Jungs bleiben höflich. „Tee wäre so geil jetzt. Zitronentee“, sagt jemand, und Cem kocht Tee.

Tim Staffels neues Buch „Heimweh“ ist Reisebericht, Action-Movie und Heimatroman. Es spielt in weiten Steppen, wo Blauhelme sich treffen, in traurigen Motels und kuscheligen WG-Küchen, in denen Kaffee ausgeschenkt wird. Als der junge, aus Kassel gebürtige Autor auf die Bühne im gut gefüllten Theatersaal der Volksbühne stakst, johlt ihm die Anhängergemeinde leise zu. Das ist doch Heimat. Die Bühne ist mit sechs altmodischen Wohnzimmerstehlampen dekoriert, im Hintergrund hängt eine riesige Leinwand. So freundlich und farbenreich wie das Buch ist auch diese Performance.

Denn Tim Staffel hat seine Lieben mitgebracht, es gibt Cello-Musik und Band-Musik und Musik vom Band. Und ein Video. Das zeigt grob gekörnt, wie schön das Reisen ist. Mit einer Frau am Steuer, die einen Hamburger isst und alle Zeit der Welt hat. Vielleicht ist das ja Ayla! Die Lichter entgegenkommender Autos, die Längsseiten der Lastwagen.

Und Tim Staffel, auf einem Barhocker sitzend, liest aus seinem Buch. Ohne Musik, mit Musik. Es ist ein Gesamtkunstwerk. Und Marvin erzählt, mit Staffels heller Stimme. Wie er im Krankenhaus aufwacht und dringend pissen muss. Wohlgefälliges Lachen im Publikum. Es ist ein freundliches Buch, trotz aller abgeschnittenen Gliedmaßen. Den Zuhörern gefällt es. Etwas verlegen verbeugen sich Autor und Musikanten. Man ist unter sich.

Christiane Tewinkel