Normalzeit
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Die Libido-Okonomie im Nordsüdgefälle ■ Von Helmut Höge

Neulich klärten mich zwei Prostituierte über Männer auf. Sonja stammt aus Moskau und Vera aus dem Kaukasus. Sonja meinte: „Die russischen Männer kannst du vergessen, die kommen nicht mal mehr mit sich selber klar, geschweige denn, dass sie in der Lage sind, ihren Frauen das Leben zu erleichtern.“

Vera sagte: „Bei uns im Süden ist das noch anders – wenn da ein Mann einer Frau verspricht, für sie und die gemeinsamen Kinder zu sorgen, dann tut der das auch, oder jedenfalls bemüht er sich. Im übrigen ist das doch hier ähnlich: Die norddeutschen Männer kriegen eine alberne Sinnkrise nach der anderen, und die russischen Frauen, mit denen sie zusammenleben, haben quasi noch ein weiteres Kind durch sie am Bein. Während es für die Männer aus dem Süden, aus der Türkei z. B., eine Frage der Ehre ist, ihre männliche Ernährerrolle zu übernehmen, sind es für die Männer aus dem Norden haltlose Versprechen.“

„Du willst doch nicht sagen, dass die Türken den Deutschen vorzuziehen sind?“, fragte Sonja entsetzt. „Kommt drauf an, was man will“, entgegnete Vera. „Ja, was will man denn?“, schaltete ich mich neugierig ein. „Es gibt eine neue türkische Illustrierte – Etap“, begann Sonja, „in der berichteten junge Frauen, was sie für Männer wollen. Mir ist dabei aufgefallen, dass die Frauen aus dem Süden für etwas kämpfen, was im Norden längst passé ist. Das gilt übrigens auch für arabische und indische Frauen, nur nicht für afrikanische. Es geht dabei kurz gesagt um die Überwindung der von den Eltern arrangierten Heirat zugunsten einer Liebesheirat. Dafür kämpfen sie alle wie verrückt. Und das ist ja auch prima. Nur dass sie dabei diese verdammte erste große Liebe mit einer Dummheit romantisieren, dass mir ganz schlecht wird, weil ich ahne, wie das endet. Ich brauch mir bloß die Hochzeitsphotos bei den türkischen Photographen anzukucken: Wenn dieser infantile Traum nicht schon in der Hochzeitsnacht platzt, weil beide keine Ahnung haben – und es grausam endet, dann gehen sie sich spätestens nach ein paar Wochen, wenn sie nicht mehr so geil aufeinander sind, ganz fürchterlich auf den Wecker.“

„Das ist aber im Süden der Sowjetunion anders“, unterbrach Vera, „da haben die Jungs und Mädchen viele Erfahrungen vor der Ehe gesammelt ...“ „Mag sein,“ entgegnete Sonja, „aber es ist doch so: Die arrangierte Verbindung entstammt ökonomischem Kalkül, sie gehört zum Bauerndenken. Da werden die Kinder genauso gezielt verheiratet, wie die Kühe geschwängert werden. Ein guter Landwirt lässt auch an seine Tiere nicht jeden ran, sondern nur vielversprechende Zuchtbullen. Mit der Industrialisierung wird dieser ganze Scheiß gottlob zersetzt. Die Töchter emanzipieren sich und suchen sich ihre Männer selber. Sie lassen sich von ihrer Verliebtheit steuern und nicht mehr von der Ökonomie ihrer Eltern. Jetzt sind wir hier aber schon wieder weiter: In der nachindustriellen Welt muss man so viel vögeln, wie es geht, mit mindestens 100 bis 1.000 Männern bzw. Frauen. Austoben nennt man das. Es geht ums Ausprobieren, herausfinden, was und wie man es haben will. Die richtige Beziehung kommt erst danach – und sie wird wieder ökonomisch sein. Eine Zweckgemeinschaft. Sei es, dass man zusammen arbeitet, Kinder großzieht, gemeinsamen Interessen nachgeht, z. B. verreisen ...Wie viele Liebesbeziehungen gehen bereits im ersten Urlaub zu Bruch ... Unglaublich.“

„Das stimmt,“ sagte Vera, „die Entwicklung geht von der arrangierten Ehe über die romantische Liebe zur selbstarrangierten Beziehung, die erneut ökonomisch fundiert ist. Da spielen die Ehe-gesetzgebung, Kinderbeihilfen, die Wohnsituation ebenso hinein wie der Arbeitsmarkt und die Chancen der Beteiligten. Aber wir sprachen über die Männer, die man dazu braucht: wo sind sie?“ „Die sind genauso schwer zu finden wie ein guter Job“, meinte Sonja, „also theoretisch überall.“