Der Kitschterrorist

„ ‚Heimweh‘, ja, das kauf ich mir.“ Tim Staffel ist der Amokläufer unter den jüngeren deutschen Autoren. Sein neuer Roman aber ist eine Suche nach der Liebe und einem Ende der Gewalt

Einmal sagst du Arschloch, und schon soll es dein letztes Wort gewesen sein. Es herrscht ein Kampf jeder gegen jeden

von VOLKER WEIDERMANN

Tim Staffel wollte nur Kurzstrecke fahren. Nach Hause. Doch dann fragte ihn der Taxifahrer, ob er vielleicht HipHopper sei. Tim Staffel sagt: „Ich bin kein HipHopper, aber ich bin Schriftsteller.“ Und als Staffel dem türkischen Chauffeur dann den Titel seines neuen Buches „Heimweh“ nennt, da wird aus der Kurzstrecke eine Fahrt für 242 Mark. Denn der Taxifahrer hat sich in ein Sehnsuchtsschwelgen hineingeredet, aus dem er kaum wieder herausfindet. „ ‚Heimweh‘ “, sagt er, „das ist ja, also wirklich, ‚Heimweh‘, ja, das kauf ich mir.“ Staffel, so vermuten wir, ist am Ende der Taxifahrt keineswegs zu Hause angekommen, sondern irgendwo in der Stadt Berlin. Aber glücklich. Denn ihm war plötzlich klar, dass er „alles richtig gemacht hatte, dass das ein gutes Jahr werden würde“.

So hat es Tim Staffel in der Zeit beschrieben, für deren buntlockerfrohen „Leben“-Teil er normalerweise die ganz harte Wirklichkeit Berlins beschreibt. – An dieser Stelle also eine Glücksfindung. Glück für ein ganzes Jahr durch bloße Nennung seines Buchtitels. Das ist doch schön. So einfach haben es die Helden seines Romans nicht. Um das Glück zu finden, reicht ihnen keine 242-Mark-Strecke. Für sie geht es weiter, immer weiter. Im Ford Mustang durch das Land, auf dem Weg in die Heimat, die niemand kennt und von der wir annehmen müssen, dass es sie womöglich gar nicht gibt.

„Heimweh“ setzt an der Stelle ein, an dem Staffels Schreckenserstling „Terrordrom“ endete. Auf der Straße, im Mustang, mit vollem Tank. Man kann es als als eine Fortsetzung des Terrordroms mit anderen Mitteln lesen. „Terrordrom“ war ein Endzeitroman, eine Gewalt- und Friedensfantasterei, in dem zum Zeitpunkt der Jahrtausendwende ein riesiger, anarchischer Gewaltbezirk errichtet wird, in dem jeder Eintretende die Lizenz zum Töten und zum Grausamsein erhielt. Und die Menschen stürmten begeistert hinein. Ins Paradies, wie sie meinen, ins Glück, an den Ort der ausgelebten Triebe, des Hasses, der Gewalt, des eigenen Untergangs. Und rundherum schien Friede zu sein und Stille. Das Ungewisse und das Nichts. Und für die, die von der alltäglichen Gewalt gelangweilt waren, vielleicht ein neues Ziel.

Dieses Ziel heißt in Staffels neuem Roman „Heimat“. Oder auch „der Ort, an dem noch niemand gewesen ist“. Dorthin machen sich Marvin und Tizian auf, nachdem sie bei einer Bank mit nicht so ganz legalen Mitteln einen „Existenzgründungskredit“ über 200.000 Mark erhalten haben. Doch die Welt da draußen ist alles andere als friedlich geworden. Es herrscht ein Kampf jeder gegen jeden. Ein böser Blick in ein überholendes Auto und schon wird man mit dem Tod bedroht. Einmal sagst du „Arschloch“ und schon soll das dein letztes Wort gewesen sein. Jeder Hotelier will dir an die Kehle, jeder Tankwart liefert dich deinen Mördern aus. Blauhelmtruppen kämpfen rätselhafte Schlachten, und wenn dir auf offener Strecke einmal das Benzin ausgehen sollte, dann kann dir nur ein tougher Schutzengel helfen.

„Willkommen im Film. Roadmovie. Splatteroption.“ So kündigt Staffel schon auf den ersten Seiten das Programm seines Romans an. Staffel, 1965 in Kassel geboren, ist so etwas wie der Amokläufer unter den jüngeren deutschen Autoren. Der Terror lauert überall und wird in den grellsten Farben ausgeschmückt. „Für mich ist das absolut der Realität entnommen“, hat er zu „Terrordrom“ einmal gesagt. Und dass die Leute, die ihm ein mächtiges Übertreiben der Alltagsgewalt vorwerfen, vermutlich alle „in Wilmersdorf“, der gutbürgerlichen Ecke Berlins, wohnen und von der Wirklichkeit also nichts wissen. – Ja, vielleicht.

Wir wissen nicht, ob das Terrordrom in der Welt des neuen Buchs noch irgendwo existiert. Wenn ja, dann hat es die Welt dort draußen jedenfalls nicht friedlicher gemacht. Staffels Helden sind Flüchtlinge. Auf der „Flucht ins Paradies“, wie es heißt. Der Welt des Terrors da draußen stellt Tim Staffel die Welt seiner Glückssucher entgegen. Der Epileptiker Marvin, der immer, wenn er sich in bedrohlichen Situationen befindet, einen Anfall bekommt, der ihn und seine Freunde aus jeder misslichen Situation befreit – Rettung durch Bewusstseinsverlust. Und sein Schutzengel Tizian. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden kann Staffel mitunter wunderbar poetisch beschreiben. Die Liebe, eine Andeutung. Aber die Grenze zum Kitsch ist fließend und wird mitunter radikal entschlossen durchbrochen. Man könnte Tim Staffel einen Kitschterroristen nennen. Lesen Sie mal das Motto des letzten Kapitels: „Kann man sein Herz zerteilen, es verschenken, oder behält man es für sich – ich weiß es nicht und denk an dich.“ Weit im Kitschbereich. Anderes ist feiner: „Wir schlafen beide ein, und eigentlich können zwei Menschen nicht dasselbe träumen.“ Oder: „Tizian sagt ‚Blau‘ und meint mich, das absolute Blau und wir fließen in den Boden. Irgendwo kündigt sich ein Gott an und er kommt näher.“

Ein Gott? Es ist zunächst ein weiterer Engel, der die Glücksfahrt der beiden verkompliziert. Der Kämpfer Cem schließt sich der Paradiesreisegruppe an und bringt das wohl austarierte Gleichgewicht durcheinander. Sie stoßen sich ab, sie ziehen sich an, kommen in neuen Konstellationen wieder zusammen. Denn ihre Fahrt ist eine einzige Liebessuche. Absolute Liebe. Der Ort, an dem man bleiben kann. „Heimat“, wie Staffel es mit einiger Penetranz immer wieder nennt.

Und wo suchen sie es, das Glück? Irgendwo in Mittelamerika vielleicht, dann in Berlin, dann Istanbul. Der Roman besteht aus drei verschiedenen Büchern, in dem die drei Protagonisten jeweils ihre eigene manische Liebessuche beschreiben. Nicht nur untereinander lieben sie. Manchmal auch Frauen. Doch die meist nur aus größter Ferne. Ein zufällig gefundenes Foto genügt, um in absoluter Liebe zu entbrennen. Dann bleibt nur noch der Wunsch, dass Ayla, die man nie in Wirklichkeit gesehen hat, „sich zusammen mit mir aus dieser Welt dreht“.

Als Tim Staffel vor vier Tagen „Heimweh“ mit Live-Begleitung befreundeter HipHop-Gruppen in der Berliner Volksbühne präsentierte, da klang der Text sehr gut. Der Kitsch schien weggelesen von der asketischen Kämpfererscheinung des lässig auf der Bühne kauernden Tim Staffel und der gewaltsamen Musik der HipHopper. Ein Cellist versuchte beharrlich gegen den Elektrolärm das gefühlige Element einzubringen. Ohne Erfolg. Man hatte wohl vergessen, das Cello akustisch zu verstärken. Das war gut für die Musik. Und gut für die Lesung. „Heimweh“ sollte nur mit cellofreiem Soundtrack gelesen werden. So lässt sich der Kitsch gut überdröhnen.

Tim Staffel: „Heimweh“. Volk und Welt, Berlin 2000, 257 Seiten, 32 DM