Loved Ones

Hochzeiten und andere Distanzen: Die Galerie im Parkhaus zeigt Videoarbeiten von Laura Bruce

von OLIVER KOERNERVON GUSTORF

„Ich könnte es den ganzen Tag lang versuchen und würde doch nicht die Entfernung zwischen seinen bloßen Füßen und seinen Turnschuhen ermessen können. Es waren etwa dreißig Zoll. Es waren viele Lichtjahre. Der Junge war so weit von seinen Turnschuhen entfernt, dass beides nie wieder vereint werden konnte.“ Die Bestürzung, die den Erzähler in Stephen Kings Novelle „Die Leiche“ beim Fund eines tödlich verunglückten Jungen überfällt, erscheint in ihrer Nüchternheit fast banal. Raum und Zeit erscheinen angesichts des Todes als vergängliche Ordnungen, die das Eigentliche nicht mehr fassbar machen können.

Die computergenerierten Portraits und wellenförmigen Skulpturen, die Laura Bruce einführend im Mittelraum der Treptower Galerie im Parkhaus platziert hat, tragen den Titel „Alexander at Sea“. Bruce hat den Körper ihres verstorbenen Großvaters rekonstruiert. Wie zur Vergewisserung hat sie Entfernungen ermessen, Abstände zwischen Gliedmaßen geschätzt und anhand von Fotografien und Erinnerungen ein dreidimensionales Koordinatenmodell erstellt. Als digitaler Print steht Alexander Bruce schattenlos vor einem weißen Grund, um im nächsten Bild wie eine jenseitige Cartoonfigur die Arme von sich zu strecken.

Immer wieder erscheint in Bruce’ Arbeiten Wasser als Metapher für das ewig Gleiche und zugleich ewig Veränderliche. Wenn Bruce Wellen als Skulpturen erstarren lässt und sie ornamental am Boden positioniert, verfestigen sie sich im Raum wie die Koordinaten ihres digitalen Modells. Das Werk der 1959 in Orange, New Jersey, geborenen und in Berlin lebenden Künstlerin bewegt sich zwischen Autobiographie und Konzept, Nähe und Distanz. Immer sind die Gestalten, die Bruce’ Bilder, Installationen bevölkern „Loved Ones“. Das Videomaterial von „Maryanne by the Water“ erscheint auf den ersten Blick wie ein Home-Movie, die semiprofessionelle Dokumentation der Hochzeit der besten Freundin, Maryanne. Zum Ritual gehören Brautjungfern in pinkfarbenen Kleidern, das nervöse Warten vor dem Ballsaal – und das Aufstellen des Brautpaares für das obligatorische Foto.

Der Originalfassung des Videos stellt Bruce einen Loop gegenüber, der diesen Augenblick des Posierens in extremer Verlangsamung wiederholt, den Blick in die Kamera, das kurzfristige Zögern, die Konzentration darauf, dass dies ein bedeutsamer Moment im Leben ist. Doch mit diesem Moment verhält es sich wie mit einem Toten, sein Abbild kann nie wieder mit seinem Vorbild verbunden werden. Die Geschichten, die Bruce erzählt, sind nicht nur die ihrer Freunde und Verwandten, sondern auch die ihrer Abbilder. Die Körper und Räume, Gesten und Bewegungen, die sie in Segmente zergliedert und wieder zusammen fügt, sind alles andere als authentisch.

Bruce’ Protagonisten sind Jemand und Niemand, Individuum und Prototyp. Formal macht sie keinen Unterschied zwischen einer Welle, einem Hut oder einem sich im Kreis drehenden Mädchen. Was anmuten könnte wie eine soziologische Analyse menschlicher Beziehungen, ist die metaphysische Auseinandersetzung mit der Unmöglichkeit, Gegenwart festzuhalten. Zwischen zwei Augenbrauen können Zentimeter oder Lichtjahre liegen. Auch zwischen der Linse einer Kamera und dem am Wasser stehenden Brautpaar.

Bis zum 1. April, Mi-Sa 15-19 Uhr, Galerie im Parkhaus, Puschkinallee 5