Großer Bruder bekommt Sehfehler

Eine Stunde Menschenwürde: Im Schachern um die Zulässigkeit von „Big Brother“ bietet RTL 2 nun ein wenig Kamerafreiheit für die Kandidaten. Konkrete Vereinbarungen mit den untereinander zerstrittenen Medienwächtern gibt es aber noch nicht

von HANS G. NAGL

„Nein, davon weiß ich nichts“, meint die freundliche Dame aus der RTL 2-Pressestelle am Telefon. „Aber wenn der Herr Ring das gesagt hat, wird das schon so sein.“ Was Wolf-Dieter Ring, Chef der Gemeinsamen Stelle Jugendschutz und Programm (GSJP) der Landesmedienanstalten, kurz zuvor am Montag gesagt hat, ist dabei nicht ganz unwichtig für den Münchener Privatsender.

Der soll nämlich erst einmal seine umstrittene Serie „Big Brother“ fortsetzen dürfen – wenn auch in entschärfter Form: Jeder der bis gestern Vormittag noch neun Kandidaten kann sich nach einer nicht ganz freiwilligen Änderung des Sendekonzepts täglich für eine Stunde der Rundumüberwachung entziehen und in einen Raum ohne Kamera flüchten. Der große Bruder bekommt einen Sehfehler – und nach dem Willen der Medienwächter soll das „sehr schnell“ gehen. Wie schnell, konnte aber auch Ring nicht sagen.

Wer die Antwort darauf bei RTL 2 sucht, wird auch tags drauf nicht wirklich fündig. Der Kommunikationschef des Senders, Conrad Heberling, tut sich ganz offensichtlich schwer, den Rückzieher des eigenen Hauses zu kommentieren. Von einer Vereinbarung weiß er nichts. Ob RTL 2 tatsächlich jedem Kandidaten eine Stunde „Kamerafreizeit“ zugestehen will? „Wir haben das angeboten“, so Heberling. „Es war ein Vorschlag, um Entgegenkommen zu zeigen.“ So bleibt offen, wann – wenn überhaupt – RTL 2 die Allmacht des großen Bruders beschränkt. „Wir vertreten nach wie vor den Standpunkt, dass „Big Brother“ die Menschwürde in keinster Weise verletzt – das bestätigen auch Wissenschaftler“, sagt Heberling.

Einer, der sich dieser Meinung nicht anschließen will, ist Wolfgang Thaenert, Direktor der hessischen Landesanstalt für den Privaten Rundfunk (LPR). Er hatte sich in der GSJP dafür eingesetzt, dass „Big Brother“ verboten wird und bereits im Vorfeld gewarnt, das Projekt sprenge „alle gesellschaftlichen Konventionen“. Eine Einschätzung, die seine Kollegen in der GSJP offenbar nicht mehrheitlich teilten. Kurz nachdem Medienwächter Ring am Montag die frohe Botschaft für RTL 2 verkündet hat, steht Thaenert deshalb im Foyer der Bayerischen Landeszentrale für Neue Medien (BLM). Den Journalisten gegenüber macht er kaum Hehl daraus, dass er mit der Entscheidung alles andere als glücklich ist. „Wenn der Vorwurf der Menschenwürde-Verletzung vorliegt, kann man nur sofort handeln. Man macht sich unglaubwürdig, wenn man da lange wartet“, meint Thaenert, in dessen Bundesland RTL 2 lizenziert ist.

Welche Länderkollegen ihm da in den Rücken gefallen sind, mag er nicht sagen. Einer seiner Widersacher dürfte aber Wolf-Dieter Ring gewesen sein. Der hatte stets betont, dass das Konzept der Serie per se nicht zu beanstanden sei. Zudem belaste man RTL 2 im Falle eines Irrtums mit einem „ganz, ganz schwerwiegenden Vorwurf“. Und wer mag es sich schon mit einem Vollprogramm am Medienstandort München verscherzen? Zumal es im Zuge der RTL-Familiengründung häufiger hieß, der Münchener Ableger könnte auch zu Mutter und Schwestern nach Köln umziehen.

In einer knappen Woche, am 14. März, wird die GSJP erneut beraten. Bis dahin will Thaenert prüfen, ob die – wie auch immer geartete – Freistunde in Sachen Menschenwürde ausreicht. Angesichts bröckelnder Zuschauerzahlen – 3,3 Millionen bei Sendestart, 2,3 Millionen am Montag – könnte diese Prüfung aber bald hinfällig sein. Sollte der Abwärtstrend anhalten, würde die Frage der Menschenrechte obsolet: Denn im Privatfernsehen mit ein paar Dutzend Zuschauern ist Privatsphäre stets gegeben.