Worpswede beherbergt ein Phantom

■ In der Galerie „Altes Rathaus“ ist Martina Werners Gesamtkunstwerk „Señor Mendoza und der C-Stamm“ ausgestellt

Das hätte sich Señor Mendoza wohl nicht träumen lassen. Vom Bett bis zum Sarg sind in der Worpsweder Galerie „Altes Rathaus“ selbst die intimsten Reliquien des großen Forschers ausgestellt. Allerdings ist die Zugehörigkeit dieser Gegenstände zu Mendoza nicht einwandfrei gesichert. Vielleicht gehörten das etwa zehn Zentimeter lange Bett, der nicht viel längere Sarg, das spielzeuggroße Schiff und all die anderen Dinge einst dem Volk des C-Stamms, das Señor Mendoza sein Leben lang erforschte. Oder erforscht. Vielleicht lebt der Mann nämlich noch. Vielleicht war oder ist er auch gar kein Forscher.

Manch einer wird bei so viel Verwirrung aufgeben und der Ausstellung „Señor Mendoza und der C-Stamm“ in Worpswede bald den Rücken kehren. Doch in diesem Fall würde die große Chance vertan, eine neue Sichtweise auf den Umgang mit Fiktion und Wirklichkeit zu erfahren. Denn was die Künstlerin Martina Werner in den elf Räumen der Galerie aufgebaut hat, gibt zwar Rätsel auf. Diese Rätsel aber werden desto spannender und lehrreicher, je intensiver sich der Besucher mit ihnen beschäftigt.

Señor Mendoza, so viel kann gesagt werden, lebt nicht und hat nie gelebt. Zumindest nicht wirklich. In ihrem Kopf, sagt die Erfinderin der fiktiven Figur, Martina Werner, lebe er schon seit 21 Jahren. Und mit ihm der offensichtlich von ihm erforschte C-Stamm. Dass Señor Mendoza wohl ein Erforscher des C-Stamms war oder ist, erfährt der Betrachter der Relikte erst nach eigenen Forschungstätigkeiten. Die Funde des C-Stamms nämlich bestehen hauptsächlich aus etwas befremdenden Zeugnissen seiner Kultur, die teils an den Galeriewänden aufgehängt, teils auf den Boden gestellt wurden: Grabmäler aus Stoff, bunt bemalte Totenstelen aus Gips, Geisterkleider, Opfertücher und Skizzen von Friedhöfen. Ganz offenkundig pflegte das fiktive „C-Stamm“-Volk also einen großen Totenkult. Wann und wo dieser Kult betrieben wurde, wird, oder vielleicht erst werden könnte, ist freilich so wenig zu ergründen wie der zeitgeschichtliche Kontext des Señor Mendoza. Sicher ist nur, dass er in Wirklichkeit nie betrieben wurde und wird. Im Gegensatz zu den Reliquien des C-Stammes sind die Gegenstände des Señor Mendoza eher praktischer Natur und begründen die Annahme über den Beruf des unbekannten Mannes: Sein Schiff, seine Instrumente, seine Pferde ...

Seine Pferde? Ja, das sind diese beiden, sechs Zentimeter hohen und wohl hundert Jahre alten Türstopper. Dann seien es doch vielmehr Türstopper? Das kommt ganz auf die Interpretation und das eigene kulturelle Verständnis des Betrachters an. Was für ihn ein Türstopper ist, kann für einen spanischen Forscher durchaus ein Pferd sein. Ähnlich verhält es sich mit den massiven, bunt bemalten Steinen, die in Reihen auf den Boden ausgelegt wurden. „Behältnisse“ sehe man da, informiert das Verzeichnis der ausgestellten Arbeiten den Betrachter. Der wird vergeblich nach Löchern in den Steinbrocken suchen, welche diese Bezeichnung rechtfertigen könnten.

Über derartige Probleme sinnend lernt man so einen Mann kennen, den es gar nicht gibt. Das zumindest erscheint klar. Wie aber verhält es sich mit dem C-Stamm? Erfunden ist der zweifellos auch. Vielleicht aber ist er sogar zweimal erfunden worden. Das könnte dann der Fall sein, wenn die scheinbaren Forschungsergebnisse des Senor Mendoza nicht real sind. Man nehme nur an, der fiktive Mendoza hätte nie geforscht, sondern seinerseits die Erfindung eines fiktiven „C-Stamms“ beschlossen. Ist das dann fiktiver als fiktiv? Auf jeden Fall könnte die Fiktion schon bald sehr real werden. In wenigen Wochen nämlich soll eine „Señor-Mendoza-Gesellschaft“ gegründet werden. Sämtliche „Fundstücke“ werden dann in einem großen Haus bei Cuxhaven eine ständige Bleibe finden und für Besucher zugänglich sein. Doch auch die Gründung einer solchen Vereinigung wird wohl nicht zur Lösung des riesengroßen Rätsels „Senor Mendoza und der C-Stamm“ führen. Es bleibt dabei: Martina Werner hat sich einen Herrn ausgedacht, dessen genaue Berufsbezeichnung, Lebensgeschichte und persönliche Ansichten nie herauszufinden sein werden. Nicht einmal von Forschern.

Johannes Bruggaier

Die Ausstellung „Señor Mendoza und der C-Stamm“ ist bis zum 9. April Di bis So von 14 bis 18 Uhr in der Worpsweder Galerie „Altes Rathaus“ (Bergstraße 1) zu sehen. Infos unter 04792/3568