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Ein Mensch wie Big Brother

DAS SCHLAGLOCH von NADJA KLINGER

„Er hatte sich angewöhnt, in Stereotypen zu denken. Stereotype waren kolumnenträchtig. Immer ging es darum, aus dem Tanz der Tatsachen die Summe zu ziehen und die Welt in Licht und Schatten zu trennen. Ein Schöpfungsakt.“

Matthias Matussek in „Die Kolumne“

Ich bin sicher, Sie alle wissen, was ein Container ist. Sie denken an eine gelbbraune Sofaecke. An den Spiegel im Bad, in den ein Gesicht greint, das Millionen in den Fernsehern sehen können. An Schlafzimmervorhänge denken Sie, die nicht schützen. Betten stehen im grünen Dämmerlicht. Mit Hilfe der Kamera sehen Sie die Schlafenden wahrhaftig und gleichzeitig so, wie sie in Wirklichkeit nicht sind. Aber das stört Sie kaum.

Sie denken an eine offene Küche, einen Esstisch für zehn Personen und dass man Kaffee durch ein Wischtuch filtern kann. Sie überlegen auch, was sich noch alles anstellen ließe im Container. Ob es möglich ist, dass irgendetwas unentdeckt bleibt. Sie haben eine Idee. Man könnte doch . . . Aber wollen Sie wirklich, dass Ihnen etwas entgeht?

Keine Ahnung. Nicht einmal von mir selbst könnte ich das so genau sagen. Aber ich bin nicht Sie.

Wochenlang ähneln wir uns sehr. Vielleicht reden wir über dieselben Dinge, vermutlich stellen wir die gleichen komischen Sachen an. Aber irgendwann ist Termin, und alles, was uns verbindet, taucht in ein grünes Dämmerlicht. Sie schlafen, und ich habe die Kamera. „Ein Schöpfungsakt“, wie der Autor Matthias Matussek sagt. Ich bin mit der Kolumne dran.

Es ist viereinhalb Jahre her, da lief ich wochenlang mit Matusseks Geschichte herum. Das Buch sollte mich davor bewahren, je ein „Schlagloch“ zu schreiben. Während ich im Café Adler auf den Chefredakteur der taz wartete, las ich darin. Ein Mann schreibt eine Kolumne. Er beobachtet die Leute, schnappt auf, was sie sagen, läuft nach Hause und seziert das Geschehen. Manchmal fällt ihm einfach ein Ereignis vor die Füße, und er bringt es zu Papier.

Er ist ein Mensch wie Sie und ich, dieser Mann: raucht sinnlos Aschenbecher voll, hat gern seine Frau im Nachbarzimmer und motzt sie voll, sobald sie an seine Tür klopft und ihn stört. Die Miete steht an, und er lässt sich zu allem hinreißen, was dazu dient, dass er mit ruhigem Puls seinen Kontoauszug betrachten kann. Menschen wie Sie und ich, meinte der taz-Chefredakteur, müssen Kolumnen schreiben. Die Sonne schien ins Café, und ich sagte zu.

Wenn jemandem das gefällt, was über ihn geschrieben wird, dann ist es journalistisch nicht gut

Es ist nicht so, dass ich seitdem meine Freiheit genieße, während Sie unter Beobachtung im Container sitzen. Ich bekomme Anrufe und Briefe, in denen Sie mich nackend machen. Sie treten unter die Gürtellinie, es fallen Worte, die ich nie gebrauchen würde. Mitunter antworte ich seitenlang. Nie kommt noch mal Post zurück. Kann man überhaupt meckern, wenn man die Macht hat, alle fünf Wochen mehrere hundert Zeilen zu veröffentlichen? Also setzt man sich hin, schöpft die Welt aus dem Vollen und reißt sich lieber gleich selbst die Sachen vom Leib. „Allerdings brauchte Gott nur sieben Tage – er quälte sich zwei Wochen für seine Zeilen“, schreibt Matussek über seinen Helden. Manchmal denke ich, dieser Satz könnte meine Entschuldigung sein.

Es gibt noch andere Möglichkeiten, sich zu rechtfertigen: Was zutrifft, das trifft, sagen meine Kollegen. Und: Wenn jemandem das, was über ihn geschrieben wird, gefällt, dann ist es im journalistischen Sinne nicht gut. Jegliche Weisheit läuft jedoch nur auf eine Sache hinaus: Es ist unmöglich, in der Zeitung einfach seine Gedanken zu verteilen. Gedanken, die nicht unbedingt gemocht, aber doch achtsam wie ein Geschenk behandelt werden. Es ist unmöglich, aus der Ferne mit dem Zaunpfahl zu winken und trotzdem noch gegrüßt zu werden. Wer Medien macht, ist immer der allgegenwärtige Big Brother, der in jeden Winkel gafft und, wenn geflüstert wird, einfach die Empfindlichkeit der Mikrofone höher dreht.

Wer Zeitungen und Fernsehen akzeptiert, müsste sich demnach damit abfinden, was RTL 2 mit seinem Containerexperiment dieser Tage prophezeit: Du bist nicht allein.

Die Mediengesellschaft, der ich seit 3. Oktober 1990 angehöre, besteht auch in diesem Sinne aus zwei Teilen. Der Westen hat sich „Big Brother“ ausgedacht. Der Osten von allein würde auf so eine Idee noch nicht kommen, denn er ist auch in dieser Beziehung hinterher. Der Westen überwacht einhundert Tage lang Leute, die sich gern überwachen lassen. Großes Brimborium – aber nichts anderes, als er immer getan hat. Der „Big Brother“ mit seinen penetranten Mikrofonen und Kameras ist letztlich nur eine potenzierte Kolumne. Er ist deren letzte Konsequenz. Das Material liegt herum, es wird beschnitten und kommentiert – aber anders als bei meinen Texten kann man kaum behaupten, dass das, was im Fernsehen läuft, nicht tatsächlich so ist.

Im Osten hatte ich in den vergangenen zehn Jahren noch die Möglichkeit, das Problem zu erkennen. Im Zeitraffer war zu verfolgen, wie aus Vertrauen in die Wirksamkeit der freien Meinungsäußerung Vorsicht und Misstrauen gegenüber der Presse wurden. Und um die Sache nicht so einfach zu machen, wie sie an dieser Stelle gern genommen wird, klammere ich die Boulevardzeitungen aus. Für die habe ich nie geschrieben, aber die Ostdeutschen gaben mir zu verstehen, dass ich mich von Klatschreportern nicht unterscheide.

Sie hätten das niemals ausgesprochen. Vielleicht haben sie es nicht einmal gedacht. Aber in meiner Anwesenheit haben sie sich im Laufe der Jahre zunehmend bewegt wie die Leute im „Big Brother“-Haus: mehr und mehr Gedanken dafür investiert, zu überlegen, was sie tun und was sie sagen sollten. Dabei haben sie immer weniger vermocht, mir auf meine Fragen zu antworten. Zuweilen ist es ihnen bei aller Vorsicht nicht einmal mehr vergönnt gewesen, zu merken, dass ich mich tatsächlich für sie interessiere.

Was die Allgemeinheit bewegt, ist die Macht der Medien selbst über ganz gewöhnliche Leute

Wie ich auch mit den Worten ringe, am Ende bringe ich es auf den Punkt. Es ist der fast unsichtbare, retuschierte Fleck, den ich, hinter dem Badezimmerspiegel lauernd, im Gesicht meiner Opfer gesehen habe. Womöglich genau die dunkle Stelle, vor der jene gewöhnlich die Augen verschließen. Weniger die Macht der Medien im Staat ist es, die die Allgemeinheit bewegt, sondern die Macht der Medien selbst über ganz gewöhnliche Leute.

Anfang der Neunzigerjahre habe ich über eine ostdeutsche Olympiasiegerin geschrieben. Sie hatte keinen Manager, keinen Anrufbeantworter. Ich schlief mehrere Tage auf ihrem Sofa, bekam alles mit, was Olympiasiegerinnen normalerweise verbergen. Am Ende hatte ich so genau recherchiert, dass ich kaum noch unbefangen schreiben konnte.

Was ich gesehen hatte, habe ich so beschnitten, dass es auf dem Platz, über den ich verfügte, ein Bild ergab. Ich zitierte, was sie erzählt hatte. Was durch ihren Kopf gegangen war, vermochte ich natürlich nicht zu sagen.

Wenn ich behaupte, dass es so war, dann ist das die eine Seite. Die andere: Die Olympiasiegerin lässt nie wieder Journalisten hinein. Wir haben uns noch öfter gesehen, aber wir kennen uns nicht. Und nun schreibe ich schon wieder eine Kolumne darüber. Zum letzten Mal. Big Brother verlässt das Haus.

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