Bohrende Hemmschwelle

Wenn die Angst vorm Zahnarzt zur Phobie wird: In einer Hamburger Praxis lernen PatientInnen, wieder den Mund aufzumachen  ■ Von Silke Langhoff

„Mats Mehrstedt – Zahnarzt. Sprechstunden: montags bis freitags von 9 bis 13 Uhr...“. Nichts auf dem Schild an dem Wohnhaus in der Horner Landstraße 173 deutet darauf hin, dass hier ein Zahnarzt anders praktiziert als andere. „Untersuchungen zeigen, dass die Hälfte der Bevölkerung Angst hat, zum Zahnarzt zu gehen“, sagt Mehrstedt, der seine Praxis und die daran angrenzende, von ihm geleitete Gesellschaft für medizinische Hypnose zum „Zentrum für Behandlung und Erforschung von Zahnbehandlungsängsten“ entwi-ckelt hat.

Wie manch elterliches Wohn- wirkt das Wartezimmer: beige Sofas, Aquarium in der einen, ein kleiner Fernseher in der anderen Ecke. „Kommen Sie bitte mit?!“ – die Aufforderung der Sprechstunden-Hilfe führt die meisten Neu-PatientInnen nicht etwa in einen der zwei Behandlungsräume, sondern in einen Raum, der eher das Jugendzimmer der Wohnung sein könnte: grüne Couch-Elemente, eine Stereo-Anlage, ein Schreibtisch aus einem schwedischen Möbelhaus. Auch Mehrstedt stammt aus Schweden. In Göteborg hat er Zahnmedizin und „etwas Psychologie“ studiert, bevor er 1977 nach Deutschland kam.

An der Uni in Göteborg wird eine Kombination beider Fachrichtungen angeboten, „so etwas gibt es meines Wissens sonst nur noch in den USA“, sagt der 48-Jährige. Auf der grünen Couch wird erstmal nur geredet. Über die Angst vor der Zahnbehandlung, aber, soweit möglich, auch über die Lebensumstände der Patienten. „Die meisten meiner Angstpatienten haben weiterreichende psychische Probleme“, hat der Mediziner beobachtet. In besonders schweren Fällen, wenn PatientInnen traumatische Schmerzerfahrungen gemacht haben, wird ein Psychologe hinzugezogen, der auf die Betreuung von Folteropfern spezialisiert ist.

Circa drei Prozent der Bevölkerung – das sind 50.000 HamburgerInnen – halten lieber Schmerzen aus, als zum Facharzt zu gehen. „Zahnbehandlungsängste sind erlernt. Wenn Menschen schlechte Erfahrungen gemacht haben, reagieren sie wie ein Pawlowscher Hund“, sagt der blonde Mann mit leicht skandinavischem Akzent. Etwa auf das surrende Geräusch des Bohrers: „Dabei ist das ein ähnliches Geräusch wie das der Turbinen von Flugzeugen, nur wesentlich leiser. Wenn Sie in den Urlaub fliegen wollen, verbinden Sie positive Gefühle mit diesem Laut“ – so man keine Flugangst hat. Krallt sich jemand im weißen Kunstleder des Behandlungsstuhles fest, praktiziert Mats Mehrstedt mit ihm Atem- und Entspannungsübungen.

Doch er weiß auch, dass sich festgesetzte Ängste nicht einfach wegrationalisieren lassen: „Eine schlechte Erfahrung erfordert mindestens zehn gute.“ Viele Dentalphobiker bekommen während der ersten beiden Sitzungen das Behandlungszimmer gar nicht zu Gesicht. Erst dann wird abgesprochen, ob sie sich beim dritten Termin auf den Behandlungsstuhl setzen würden – nur „Probesitzen“ – und sich vielleicht in den Mund sehen lassen. Das Mal darauf führt er Bohrer oder Betäubungsspritze nur zum Mund: so tun als ob.

„Wir schneiden das Problem in kleine Scheiben“, erklärt Mehrstedt, der Vertrauen aufbauen will. Geschafft hat er das bei der neunjährigen Rowena. Seit zwei Jahren kommt sie regelmäßig zur Behandlung. „Davor waren wir bei drei verschiedenen Ärzten,“ erzählt ihre Mutter, „da hat sie einfach den Mund nicht aufgemacht.“ Sie kommt mit ihrer Tochter aus dem niedersächsischen Hollenstedt. Andere PatientInnen reisen gar aus Rostock, Bremen oder Ludwigslust an.

Materiell lohnen sich Mehrstedts Bemühungen nicht – sie lassen sich nicht über die Krankenkassen abrechnen. Sowohl Studien wie auch sein Erfahrungen hätten gezeigt, dass Menschen mit Zahnbehandlungsängsten eher aus sozial schwachen Schichten stammen, „die haben schon genug Probleme, da verlange ich nicht auch noch Geld“. Lediglich Behandlungen unter Hypnose läßt er sich mit 150 Mark vergüten, da es sehr zeitaufwendig sei, PatientInnen in einen Trancezustand zu versetzen: „weil das überhaupt nichts mit Zauberei zu tun hat“.

Mehrstedt bietet auch Fortbildungskurse für seine KollegInnen an, die jedoch nur wenig nachgefragt werden. „Meine Zunft nagt ja seit Jahrzehnten am Hungertuch, da sind Gratis-Leistungen natürlich nicht drin“, diagnostiziert er mit ironischem Lächeln. Ihm allerdings sei ein anderes Verhältnis zwischen Arzt und Patient, bei dem letzterer sich als Individuum ernst genommen fühlt, wichtig. „Schließlich geht es darum, etwas Gutes für sich selbst zu tun, wozu doch auch die Zähne gehören.“ Damit Sie wenigstens morgen wieder kraftvoll zubeißen können.