Der Autonome

von JAN FEDDERSEN

Neulich war er zu Gast beim Berliner Festival des politischen Liedes. Irgendwie gehörte er ja dazu. Sang in der Wabe am Prenzlauer Berg, ein Traditionsort für diesen Zweck, etwas auf der Gitarre, holte auch sein Bandoneon heraus, um seine Texte zu untermalen. Es half nichts, das Publikum zeigte sich desinteressiert bis ungnädig. Geringer Beifall.

Andere bekamen mehr Gunst geschenkt. Vielleicht Liedermacher, die den Zuhörern mehr Heimat gaben. Einer wie Stefan Krawczyk kann das nicht, da half auch sein Outfit nichts, schwarzes Hemd und schwarze Hose. Was er mitzuteilen hatte, waren private Dinge, Bemerkungen über die Frauen, die Liebe. Nichts über Pinochet oder, so oder so, dass die Erde rot wird.

Krawczyk schüttelt sich fast vor Befremden später über dieses Revival „eines untergegangenen Gestern“, wie er sagt. Jetzt steht er im Innenhof der Kulturbrauerei im Berliner Szeneviertel Prenzlauer Berg. Er wird gleich aus seinem neuen Roman „Steine hüten“ lesen. Er sieht aus wie vor zehn, vor fünfzehn Jahren, vielleicht wie immer. Eher klein. Und vor allem schmal, fast hager. Die Haare noch so kurz wie ehedem. Böse gesagt, trägt er keine Frisur, sondern einen Gefängnisschnitt. An Wangen und Kinn ein Zweitagebart. Dass er älter geworden ist, ist nur aus der Nähe zu erkennen. Aber schon aus zwei Metern Distanz ist er: ein Junge, der irgendwie immer neugierig zu gucken scheint. Angesprochen auf jenen Abend mit den politischen Liedern meint er nur: „Als ich rauskam und in mein Auto stieg, hörte ich im Radio Verkehrsnachrichten. Staus in Köln und Frankfurt. Überall Lärm. Da hatte ich das Gefühl, wieder nach Hause zu kommen.“ Endlich Ruhe. Endlich im Westen.

Einer wie Stefan Krawczyk sagt einen solchen Satz nicht, weil er das, was er gegen die DDR eingetauscht hat, nun besonders attraktiv findet. Nein, der gebürtige Thüringer trägt schwer an der Welt. Findet auch an diesem Abend seiner Buchpräsentation melancholische, eingeweihte Worte über den beklagenswerten Zustand der Welt. Auf den Stühlen vor ihm meist Frauen, viele aus seiner Generation, aber auch erstaunlich viele, die seine Töchter sein können. Sie nicken beifällig, ob er nun etwas kommentiert über den Computer, dessen automatische Rechtschreibhilfe für ein „Schwupp“ ein „Schwapp“ vorschlägt, oder nach der Geschichte über die Frau, die er anbetet und die er erst bekommt, nachdem er sie charmiert und umworben hat. So mühsam.

Politik im konkreten Sinne bleibt außen vor, da hat Stefan Krawczyk nichts von der Sorte „Ich fordere“ oder „Ich klage“ zu sagen. Ob er weiß, dass in dieser Hinsicht für ihn Grenzen gesteckt sind, ist offen, aber der Mann interessiert sich womöglich überhaupt nicht für irgendein aufgeregtes Vergangenheitsbewältigungsprogramm. Das war schon in der DDR so. Mitte der Fünfzigerjahre geboren, Vater Bergmann, Mutter Briefträgerin, proletarische Musterwurzeln also, Abitur, Musikstudium, Bertolt-Brecht-Interpret, Liedermacher. Einer wie Wolf Biermann, vermutete man im Westen. In Wirklichkeit keiner von dieser Art.

In einem Gedicht, kurz vor seiner Verhaftung Ende 1987 verfasst, heißt es lapidar: „Lange genug auf Eis gelegen / lang genug umsonst geheult / muss die starren Glieder regen / eh der Frost ins Herz sich heult.“ Das wurde damals in jeder Hinsicht dissident gelesen und verstanden, alles war eben politisch, renegatisch, kritisch, auf Differenzierungen konnte die SED-Nomenklatura nichts geben, dafür war ihre Macht zu fragil. Aber Krawczyk war schon damals kein Dissident wie die anderen, kein enttäuschter und also erbittert bekämpfender Liebhaber des Sozialismus, sondern nur Poet, der in Ruhe gelassen werden wollte, um sich selbst zu finden, wie er sagt, seine „Leidensfähigkeit“ zu prüfen und nach innen zu hören, was ihn wirklich bewegt. Die DDR, so gesehen, war ein Verhinderungsort für ihn – weshalb er zum prominenten Abweichler, wenn nicht wider Willen, aber doch mit anderem Sinn wurde.

Der Sozialismus an und für sich, als Herzensangelegenheit, ist nie seine Sache gewesen. Und das ist sein entscheidender Unterschied zu allen Bürgerrechtlern, vor allem aber zu Wolf Biermann, der Eitelkeitsmaschine aus der Chausseestraße. Kaum angekommen im Westen, wenige Stunde nach seiner Freilassung aus dem „popelgrünen Loch“ des DDR-Knasts, bekommt er in Bethel bei Bielefeld, im Asyl einer Pfarrerswohnung, schon Besuch aus Hamburg, Biermann und zwei Journalisten vom Spiegel. Beleidigt ziehen sie von dannen, als Krawczyk sich verweigert, als „Maus“ dem „Berg“ eine Vorzugsbehandlung zu gewähren.

Aber das Äußerste, das der mittlerweile im Berlin-Neukölln lebende Schriftsteller gegen Biermann sagen würde, ist nur, dass es „fragwürdig“ sei, sich in den „Mittelpunkt zu stellen“. Die Kritik gilt auch für alle anderen Figuren, die sich noch an der DDR abarbeiten, aber Biermann speziell, bei dem „drehte sich und drehte sich und drehte“ als „moralische Instanz“ immer alles um – ihn selbst? „Ja.“ Klingt das nicht ein wenig bitter, wo es ihm, dem Krawczyk, doch selbst an Prominenz gebricht? „Nein, aber ich finde, es gibt heute andere Probleme“, und Biermann, der „gute Wolf“, wie Krawczyk maliziös schreibt, sei einer, der wie ein „älteres Mädchen“ wirkt, das sich immerzu an die Zeiten erinnere, als es noch keine Falten trug.

Krawczyk missbehagte die DDR, weil sie ihn daran hinderte, in sich und in die Welt hineinzuhorchen, er selbst hatte auch nur den Ansatz einer Idee, den realsozialistischen Staat als Menschheitsprojekt zu verbessern. Insofern war er auch nie enttäuscht, dass die Wende nicht zugunsten einer wieder auferstandenen DDR verlief. Er hatte jetzt genügend Freiraum; man ließ den „schönsten Liedermacher der DDR“ (so der einstige Pfarrer Rainer Eppelmann) in Ruhe.

Im Westen hatte er keine anderen Erwartungen, als zu verdauen, dass nun kein Zensor ihn schattiert. Einige Jahre konnte er noch von Auftritten leben. Schraubte seine materiellen Ansprüche herunter, zog von einer schönen in eine vorwiegend billige Wohnung. Und schrieb ein Buch. „Das irdische Kind“. „Allmählich hatte ich das Gefühl, ein Schriftsteller zu werden“, sagt er. Was eine Spur zu kokett klingen mag, meint vielleicht dies: Endlich herausgefunden zu haben, was ihn ticken macht.

Rezensentenlob von der FAZ bis zum Tagesspiegel attestierte ihm eine feine Beobachtungsgabe und eine überraschende Sprache. Am besten ist Krawczyk immer dann, wenn er von seinen Liebsten und Nächsten erzählt, von den Freundinnen, der Mutter, dem Vater. „Ich zog ihn immer zum Schluss an mich heran, hielt meine Hände schützend um seinen Kopf, bis ich laut klagend erwachte.“ Für diese Geschichte über seinen sterbenden Vater erhielt er 1992 den Bettina-von-Arnim-Literaturpreis.

Sein Ton ist der eines Bohemien, der sich die Welt von außen wie ein Erzieher anguckt, einer, der um die Vergeblichkeit guten Wirkens weiß. Krawczyk ist entschieden gegen das Fernsehen, diese „Bilderdusche“, gegen „Shopping“, diesen „sinnlosen Konsum“, überhaupt gegen jede Art von „Ablenkung“ und „besinnungslosem Amüsement“.

Materielle Dinge zu begehren hält er für „obszön“ und „pornografisch“, sagt aber zugleich, „jeder soll machen, was er will“. Und wie ein deutscher Kulturpessimist führt er die „Entfremdung“ als Argument ein, unter der die Menschen litten. Aber, Einsicht ist nicht seine Schwäche, er weiß, die „Wirtschaft ist auf diese Entmündigung angewiesen“, und „der Mensch“ werde deshalb daran gehindert, „sich mit seiner Sterblichkeit zu beschäftigen“. Keine Frage, auch gegen die „Berieselung“ durch die Radiostationen ist er, stattdessen bevorzugt er Bach, russische Quetschkommodenklänge und mongolische Chöre. Die Frage, ob nicht jeder Mensch, und sei es in einem Song von Madonna oder einem von den Back Street Boys, die gleichen Dinge erkennen könne wie er in seinen Liedern, lässt er unbeantwortet. Auch, weshalb er einen BMW fährt, wenn es doch eine billigere Karre auch täte.

Nein, Stefan Krawczyk kann all diese Widersprüche nicht klären. Ironie ist ihm fremd. Er hat endlich in der Anti-DDR herausfinden können, was ihn bewegt, welche Geschichten er eigentlich erzählen möchte. Er sucht die Stille und wohnt doch in einem der lautesten Quartiere der Hauptstadt. Er singt, obwohl nur wenige ihm zuhören möchten. Er hält die Welt für „erziehungsbedürftig“ und ähnelt darin einem Biermann mehr, als ihm lieb sein müsste. Er ist ein deutscher Skeptiker, der den Lärm braucht, um die Ruhe ersehnen zu können. Er hat in der Tat nach der Wende seinen Weg gefunden. Einen eigenen.