buße & reue
: JANUSKOPF WOJTYLA

Für die große Mehrzahl der Zeitgenossen, die das päpstliche Bußgebet des gestrigen Sonntags verfolgten, steht das religiöse Koordinatensystem nicht mehr zur Verfügung. Für sie ist die Kirche nicht der mystische Leib Jesu Christi, der die Glieder der Kirche vom Kreuzestod Jesu bis zum Jüngsten Gericht verbindet, sondern eine Großorganisation, die, will sie sich behaupten, den Herausforderungen des geschichtlichen Wandels Genüge tun muss. Gemessen an diesem weltlichen Erfordernis hat Johannes Paul II. einen wichtigen, aber ungenügenden Schritt getan.

Offensichtlich sind die Zeiten der triumphierenden, der „konstantinischen“ Kirche vorbei. Wenn auch die Katholiken in manchen Weltgegenden an Unterdrückung leiden, leben wir auch nicht in einer „julianischen“ Epoche der Kirchenverfolgung. Was den Christen zu schaffen macht, ist der weltweite Siegeszug einer Moderne, die auf die „Hypothese Gott“ bequem verzichten kann. Schon vor Beginn seines Pontifikats hat der Wojtyla-Papst erkannt, dass seine Kirche sich den unerfüllten Versprechen der Moderne zuwenden muss: universelle Geltung der Menschenrechte, weltweite Hinwendung zu den Armen und Unterdrückten, Ablehnung der kriegerischen Gewalt als Lösung für zwischenstaatliche Konflikte. Dieses „moderne“ Programm hat der janusköpfige Papst mit der anderen, hierarchisch-klerikalen Hälfte seiner Überzeugungen selbst vereitelt. Dennoch fügt sich sein Schuldbekenntnis in den Modernisierungsprozess ein, der mit dem 2. Vaticanum eingeläutet wurde.

Es ist einleuchtend, dass, der katholischen Dogmatik folgend, nicht die Kirche selbst zum Gegenstand von Buße & Reue gemacht werden konnte. Aber auch wenn wir diese Schranke akzeptieren, fällt die Halbheit des Schuldeingeständnisses ins Auge. Exemplarisch sei auf den Passus zum religiösen Judenhass verwiesen, wo es heißt, dass „einige deiner Kinder (gemeint ist Gott der Vater) Verachtung und Hass äußerten gegenüber den Kindern Israels sogar bis hin zur Verfolgung“. Solche Art von Selbstkritik hat mit realsozialistischen Ritualen und deren eherner Grenze mehr zu tun als mit der christlichen Umkehr, der Metanoia, die die Voraussetzung bildet für ein ehrliches Schuldbekenntnis.

CHRISTIAN SEMLER