Soweit die Mythen tragen

■ Unsere Ehre heißt Reue: In der Abaton-Reihe „Gedächtnis und Vernichtung“ präsentiert Kai Wiesinger heute Roland Suso Richters „Nichts als die Wahrheit“

Holocaust 2000: Das abstoßende Verhalten der deutschen Industrie bei der Frage der Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter will kein Ende nehmen, und im Kino muß sich Marlene Dietrich in Joseph Vilsmaiers reaktionärem Heimatfilm Marlene am Totenlager eines deutschen Landsers mit Nazi-Deutschland versöhnen.

In der Welle des neuen Selbstbewußtseins im Umgang mit der deutschen Vergangenheit nimmt Roland Suso Richters Nichts als die Wahrheit, den Hauptdarsteller Kai Wiesinger heute abend im Abaton vorstellen wird, einen besonderen Platz ein. Der Film erzählt eine spekulative Geschichte. Josef Mengele (Götz George), „der Todesengel von Auschwitz“, ist entgegen offizieller Verlautbarungen nicht 1979 in Süd-amerika ertrunken. Er lebt, stellt sich der deutschen Justiz und lässt sich von dem zunächst entrüsteten Anwalt Peter Rohm (Kai Wiesinger), „dem einzigen deutschen Mengele-Experten“, verteidigen. Was sich im Laufe dieses Prozesses fortan abspielt, könnte man als den Inbegriff einer mythisch-revisionistischen Umwertung der deutschen Geschichte auf dem Weg nach „Mitte“ bezeichnen.

Götz George gibt einen Mengele, der sich gestisch irgendwo zwischen Mephisto und Nosferatu wiederfindet. Ausflüchte hat eine Figur dieser Kategorie nicht nötig, „Auschwitz war ein Vernichtungslager, das wissen sie doch, Herr Staatsanwalt.“, und sich selbst präsentiert Mengele als forschender Mediziner in schlechten Zeiten: „Ich war nie Nazi, ich habe mich mit dem System arrangiert wie unzählige andere auch.“ Hier konkurrieren zwei Argumentationen miteinander: Einerseits sollen wir Mengele als Produkt seiner Zeit verstehen, wobei „die Umstände“ und „diese Zeit“ freilich ähnliche Mysterien bleiben wie Mengele selbst. Andererseits steht dem die Inszenierung Mengeles als untoter Wiedergänger der deutschen Geschichte entgegen, der Dracula näher ist als der Banalität des Bösen.

Am Ende gibt es dann doch klare Antworten auf die Fragen nach der persönlichen Schuld und nach dem Umgang mit der Erinnerung. Nicht der Nationalsozialismus steht hier vor Gericht, sondern das Ideologische an sich. Nichts als die Wahrheit macht in seiner Inszenierung keinen Unterschied zwischen Neonazis und Autonomen, die sich vor dem Gericht prügeln und so zu einer einzigen Masse werden, die die Montage gleichsam als Brut Mengeles deklariert.

Dagegen ist der individualisierte Anwalt Rohm schließlich doch nicht vom Bösen infiziert, und Mengele deshalb schuldig, weil er nicht bereuen kann. Unsere Ehre heißt Reue. Der Verweis auf das eigene Schuldempfinden bringt die Entlas-tung, mit der alle weiteren Fragen hinfällig werden. After the truth: Der Fall ist abgeschlossen, der letzte Drache erlegt und die „Moralkeule“ Auschwitz, von der Martin Walser gesprochen hatte, endgültig abgewehrt. Jan Distelmeyer

heute, Abaton (Gast: Kai Wiesinger), 20 Uhr