Das Leben neben dem Leben

Erstaunlich leicht kann Margriet de Moor vom Glück erzählen und zugleich seine Vergänglichkeit deutlich werden lassen. Ihr neuer Roman „Die Verabredung“ reizt allerdings zum leisen Widerspruch

Als hätten die leblosen Dinge sich verschworen, die Katzenbesitzerin Gemma Meeuwenoord und den Tierarzt Vincent Lukas zu verkuppeln

von DIEMUT ROETHER

Es sei die Geschichte einer Straße, schreibt die Autorin am Anfang des Buches, doch genau genommen ist es die Geschichte einer Landschaft nahe dem Meer. Durch die endlosen weißen, blauen oder rosafarbenen Hyazinthenfelder erstreckt sich ein Netz von Kanälen und Wassergräben, dazwischen erheben sich riesige Scheunen, in denen die Blumenzwiebeln sortiert, abgepackt und den Winter über gelagert werden. Mitten durch diese Landschaft zieht sich eine Straße, ein Verbindungsweg zwischen zwei Menschen, dem Dorf und dem Meer. Eine Straße, die ihre Opfer fordert. Fast jeden zweiten Tag kommt es zu einem Verkehrsunfall.

Hier lebt der Tierarzt Vincent Lukas, „ein Mann von 40 Jahren, dem es im Leben nicht einfiele, seine Frau zu verlassen“. In einer regnerischen Frühlingsnacht macht Vincent Lukas, weil er nicht einschlafen kann, einen Spaziergang durch das Dorf. Auf der nassen Straße sieht er zufällig einen Kalender unter einer Laterne liegen, hebt ihn auf, blättert darin – und entdeckt seinen eigenen Namen.

Es ist die Geschichte eines Ehebruchs, genauer: einer Begegnung, die so schicksalhaft und „wahr“ erscheint, dass der Ehebruch unausweichlich wird. Schon in ihrem ersten Roman „Erst grau dann weiß dann blau“ beschäftigte die niederländische Autorin Margriet de Moor die Frage: Was für ein Leben befindet sich „ganz in der Nähe des Lebens, in dem man zufällig gelandet ist“? Was hätte sich geändert, wenn der Mann in einer regnerischen Frühlingsnacht nicht, von Schlaflosigkeit getrieben, zu einem kleinen Spaziergang aufgebrochen wäre?

Und doch tut Margriet de Moor so, als sei ihr neuer Roman „Die Verabredung“ die Geschichte einer Straße und die Geschichte eines Kalenders. Als hätten diese beiden leblosen Dinge sich verschworen, die Katzenbesitzerin Gemma Meeuwenoord (geborene van Rijn) und den Tierarzt Vincent Lukas zu verkuppeln. Die Kapitelüberschriften jedenfalls beschränken sich auf nackte Daten – ohne Wochentage – und auf verkehrstechnische Begriffe wie „der Kreisel“, „die S-Kurve“, „die Kreuzung“. Und tatsächlich treten Begegnung und Ehebruch in den Hintergrund angesichts dieser Straße, besser gesagt: dieser Landschaft und ihrer Geschichte.

Vincent Lukas hat sich längst damit abgefunden, dass seine Frau Noor ihn ausfragt, dass sie wissen will, woran er denkt, dass sie – wie er einem Hund auf dem Operationstisch klagt – „ihr Ohr oft wie eine Lupe auf meine Äußerungen richtet, etwas damit herauspickt und es dann, grauenvoll hohl und aufgebläht natürlich, für hübsch genug befindet, um es einzurahmen und in ihrer Seele anzunageln“. Dass sie als seine Assistentin in der Praxis auch die Verfügungsgewalt über seinen Terminkalender hat. Und dass zwischen ihnen beiden eine unausgesprochene Abmachung besteht: „Dass er sie sein Leben lang nicht betrügen würde. Und dass sie das glauben würde.“

Es ist das alte Lied von Betrug und Selbstbetrug, vom Leben, in dem wir uns eingerichtet haben, und der Möglichkeit, doch einmal einen oder zwei Schritte zur Seite zu tun und es in seiner Tonart zu verändern. Dies alles wird, wie es die Leser von Margriet de Moor gewohnt sind, von der Autorin allenfalls angetippt; Margriet de Moor erzählt es in ihrer musikalischen, eingängigen Sprache, die ihre Übersetzerin Helga van Beuningen so ins Deutsche überträgt, dass man beim Lesen die wohlklingende Stimme der als Sängerin ausgebildeten Autorin herauszuhören meint. Ein Roman wie eine Komposition mit Intermezzi und Motiven, die einmal kurz angespielt werden, überraschend abgewandelt wiederkehren, ausgeführt werden und schließlich verklingen. Und wieder einmal staunt man, wie scheinbar leicht es dieser Autorin gelingt, vom Glück zu erzählen und zugleich seine Vergänglichkeit deutlich werden zu lassen.

Und doch möchte man leisen Widerspruch anmelden an dieser angeblich so unausweichlichen, opernhaften Macht des Schicksal, der Behauptung, man könne „gewissen Dingen, Dingen, die ihren Willen in den Sternen bekundet haben, einfach nicht entrinnen, es gibt niemanden, der das im Grunde seines Herzens nicht wüsste“. Und doch schleicht sich der Verdacht ein, dass Margriet de Moor eigentlich eine Familiensaga hätte schreiben sollen und wollen, über die Blumenzüchterdynastie van Rijn und ihr großes Haus in dieser holländischen Landschaft, „mal von Drama überströmend, mal ein wenig banal“. Gern hätte man mehr gelesen über das „unmögliche Weibsbild“, Gemma van Rijns launische ältere Schwester Quirine, die eines Morgens, bei Glatteis, vom Dach der Scheune stürzte und starb. Denn die unausweichliche Liebesgeschichte, die stattdessen erzählt und doch nicht erzählt wird, ist schlicht ein wenig banal.

Margriet de Moor: „Die Verabredung“. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen, Carl Hanser Verlag, München 2000, 190 Seiten, 34 DM