China schaut gen Westen

Mit einem neuen Entwicklungsplan will die Regierung in Peking die Kluft zwischen Küste und Hinterland schließen. Bislang erschöpft sich die Strukturhilfe in Großprojekten

Peking taz ■ „Go West“ lautet die Botschaft des chinesischen Ministerpräsidenten Zhu Rongji. Auf dem Nationalen Volkskongress in Peking, der morgen zu Ende geht, hat er die „groß angelegte Erschließung und beschleunigte Entwicklung der westlichen Gebiete“ versprochen. 70 Prozent der geplanten Investitionen für den Bau von Eisenbahnlinien, Flughäfen und Naturgaspipelines sollen künftig in die weiten Steppen und kargen Wüsten Chinas fließen.

In den Provinzen Shaanxi, Gansu, Ningxia, Qinghai, Xinjiang im Nordwesten und Yunnan, Guizhou, Sichuan, Chongqing und Tibet im Südwesten leben 273 Millionen Menschen, beinahe ein Viertel der Bevölkerung. Etliche davon gehören zu den zahlreichen ethnischen Minderheiten.

Bereits in den 50er- und 60er-Jahren hatte Mao Tse-tung versucht, den Außenterritorien durch die Ansiedlung von Schwerindustrien im Westen neues wirtschaftliches Gewicht zu verleihen. Dieser Plan entpuppte sich jedoch als kontraproduktiv: Während die Wirtschaft an den Ostküsten Wachstumsraten um die 13 Prozent erzielte, hinkten die westlichen Gebiete hinterher.

Das immer größer werdende Gefälle zwischen dem armen Westprovinzen und den boomenden Küstenregionen im Osten, deren Pro-Kopf-Einkommen 1998 mit 433 US-Dollar dreimal höher waren als die des Westens, bereitet der chinesischen Zentralregierung zunehmend Kopfzerbrechen: 1996 als Schwerpunkt des neunten Fünfjahresplans deklariert, blieb eine zentrale Förderungsdirektive unter Leitung der staatliche Entwicklungs- und Planungskommission zunächst ohne Wirkung. Man betrachtete die westlichen Provinzen nach wie vor als billige Materiallieferanten. Die Hälfte aller Rohstoffe und Energieressourcen kommen aus Chinas Steppenlandschaft, ebenso billige Arbeitskräfte.

Unter der neu ausgegebenen Entwicklungsstratgie will die Regierung „marktwirtschaftlichen Prinzipien“ größeren Spielraum einräumen. Private Firmen sollen durch eine begünstigende Wirtschaftspolitik zu Investitionen ermutigt werden. Die Entwicklung des Tourismus durch Verbesserung der Infrastruktur sieht Peking als zweites Standbein der Go-West-Initiative. Bislang brachte die Seidenstraße als Hauptattraktion nur 10 Prozent der Chinatouristen in das Gebiet.

Minister Zeng Peiyan von der Entwicklungskommission setzt für die Finanzierung auf ausländische Kredite und Schuldenumschreibungen: Zwei Drittel der 600 Staatsbetriebe, deren Passiva in Aktien umgewandelt werden sollen, befinden sich im Westen Chinas. Zudem erhofft er sich finanzielle Unterstützung von im Ausland lebenden Chinesen, die in der Wüste Gobi eine Art chinesisches Las Vegas errichten wollen.

Dass die Zentralregierung den entlegenen Gebieten unter die Arme greifen will, hat jedoch auch politische Motive: Die Bevölkerung fühlt sich zunehmend entfremdet von der Politik der Zentrale. Insbesondere in der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung der nordwestlichsten Provinz Xinjiang machen sich separatistische Tendenzen breit. Muslime und andere Minderheiten sollen davon überzeugt werden, dass sie im Reich der Mitte am besten aufgehoben sind.

Fraglich ist, wie Peking die Umverteilung von den Küsten ins Landesinnere zentral dirigieren und gleichzeitig die zusätzlichen Mittel von Ost marktorientiert und den lokalen Bedürfnissen entsprechend einsetzen will. Bislang erschöpfen sich die Hilfsprojekte im Bau von Staudämmen und Autobahnen, die der Wirtschaft nicht den erhofften Aufschwung brachten. Der Zwiespalt einer „kontrollierten marktwirtschaftlichen Öffnungspolitik“ wird Peking auch in die Weite der Steppengebiete Westchinas folgen. KRISTIN KUPFER