Bleistift statt Textverarbeitung

Wie die deutschen Bedenkenträger die Misere auf dem Informationstechnik-Arbeitsmarkt durch mangelnde Ausbildung selbst verschuldet haben
von GUNNAR MERGNER

Bald ist auch der Bundeskanzler drin, im Internet. Yahoo! Die frohe Nachricht der vergangenen Woche deckte vielsagende Berliner Rückständigkeiten auf: Sekretärinnen und enge Mitarbeiter erledigen für viele Abgeordnete und auch für Kanzler Schröder vertrauensvoll alles, was mit dem Internet oder PCs zu tun hat.

Der Kanzler der Innovationen schreibt Anweisungen offenbar noch mit dem Bleistift. Das sagt alles über den Standort Deutschland. Seit über zehn Jahren beschreiben Soziologen den Übergang der Industriegesellschaften in die Dienstleistung. Bis heute sind die neuen Technologien nicht in den Büros und Köpfen der Deutschen angekommen. Jetzt sind die Probleme da und das Wehklagen ist groß.

Das deutsche Dilemma: Man möchte eine fortschrittliche Exportmacht bleiben, hätte sich dann aber den Technologien der weltweit expandierenden Informations- und Kommunikationsbranche nicht so hasenfüßig nähern dürfen. Ergebnis: Die Arbeitgeber fahnden nach 75.000 qualifizierten Informatikern, den Spezialisten der Zukunft. In Wirtschaft und Ausbildung ist man sich einig: Das hätte nicht passieren müssen.

Für Karl Hantzschmann, den Vorsitzenden des Fakultätentags Informatik der Unis, ist der Fall klar: „Wir sind Weltmeister im Diskutieren der Technikfolgen. Die anderen tun etwas.“ Die Deutschen, chronische Bedenkenträger, stünden sich mit ihrer zögerlichen Art selbst auf den Füßen. „Wirtschaft, Gesellschaft und Politik – alle haben hier den Anschluss verpasst.“

Man habe sich wie ein junges Reh auf der Lichtung verhalten, findet der Geschäftsführer des Bundesverbands Informationstechnologien, Alexander Bojanowsky: „Die Technikgeilheit anderer Länder ist nicht so unser Ding.“ In deutschen Wohnzimmern ist ein Tintenklecks häufiger als ein Computerabsturz.

Dabei malten Forscher die schöne neue Welt der Informationstechnik seit Jahren in den beruhigendsten Farben aus: Bildtelefone würden uns verbinden, intelligente Kühlschränke über das Netz eigenständig den Einkauf ordern. Die Zauberindustrie soll Bequemlichkeit, Arbeitsplätze und Wohlstand bringen.

Die ITK-Branche (Informationstechnik und Kommunikation), weltweit nach dem Tourismus die zweitgrößte Jobmaschine, ist immer noch eine wichtige Triebfeder der deutschen Volkswirtschaft. 1999 verdankten ihr 1,74 Millionen Menschen den Arbeitsplatz. Die Republik ist der drittgrößte Markt weltweit, mit erheblichem Abstand zu den USA und Japan. Jetzt muss die Branche mit technisch versierten Gastarbeitern – via Green Card – diesen Status unterfüttern.

Der ITK-Vertreter Bojanowsky gesteht: „Auch die Industrie selbst hat die Schnelligkeit des Prozesses unterschätzt.“ Die Unternehmen hätten die Jobentwicklung „zu negativ“ eingeschätzt und ihre Ausbildung zurückgefahren, bekennt Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. Doch der weltweite Bedarf an Fachkräften explodierte und ist kaum zu decken. Bei den deutschen Studenten brach das Interesse an der Informatik in der entscheidenden Phase weg. Anfang der 90er-Jahre, als die Weltwirtschaft in der Rezession steckte, galten gerade die Ingenieurs- und Informatikerberufe als sicherer Weg in die Arbeistlosigkeit. Folge: Eine „beängstigende Abnahme der Studentenzahlen“, sagt Karl Hantzschmann.

Gerade noch 4.000 Studenten wollten sich 1994 in die als dröge verschrienen Geheimnisse des Programmierens einweihen lassen. Knapp zwei Jahre später vermissten die Firmenchefs schon 30.000 Arbeitskräfte. Spätestens damals, kritisiert Bildungsministerin Edelgard Bulmahn ihre Vorgänger, hätte man an den Schulen eingreifen müssen. „Man hätte die Schüler sensibilisieren müssen, sie begeistern für die neuen Möglichkeiten“, klagt auch der Informatikprofessor Hantzschmann.

Die Wirklichkeit sah anders aus: Die Schulen hatten keine PCs. Die Länder kein Geld. Die Lehrer keine Ahnung. Die neue Technik fasste man höchstens mit spitzen Fingern an. Die Politik konnte mit dem Tempo der technischen Entwicklung nicht Schritt halten. „Wissen Sie“, seufzt Industrievertreter Bojanowsky, „die Zeit, die mit dem Ausdiskutieren vertan wird, ist zu lang. Die Bayern möchten gerne den lieben Herrn Jesus auf die Homepage, und an solchen Detailfragen scheitert der gut gemeinte Ansatz.“

Dank des Internet-Booms steigt die Zahl der neuen Immatrikulationen in der Informatik wieder rasant. Rund 11.000 waren es im Wintersemester, zweimal mehr als noch 1997. Jetzt sind es die Universitäten, die dem neuen Ansturm kaum standhalten, weil ihnen in den mageren Zeiten Mittel und Stellen gestrichen wurden.

„Wir sind gefordert, Reserven zu mobilisieren, Finanzen zu verlagern“ fordert der Fakultätentag-Chef Hantzschmann. Mehr Geld einfordern, meint er, würde allein nicht helfen. „Wir weisen keinen Studenten ab“, gibt er sich kämpferisch. Doch die Neuen sind erst in fünf Jahren mit der Ausbildung fertig. Und noch lange nicht zahlreich genug.

Die Industrie giert nach schnell und fachgerecht ausgebildeten Arbeitern, regt eifrig kürzere Ausbildungszeiten an. Außerdem sollen aus dem Heer der Arbeitslosen die wenigen geeigneten Informatikkreativen aussortiert und weitergebildet werden. Hauptsache, der Standort liegt nicht in den wichtigen kommenden Jahren brach.

Die Hoffnung wächst und ist im Vorschulalter. „Wir haben ein ungeheueres Potenzial vor uns“, schwärmt Verbands-Geschäftsführer Bojanowsky und erzählt von Dreijährigen, die mit der Maus ihre Kinder-CD-ROM ansteuern. Der Nachwuchs überflügelt die Eltern spielend.

Er soll gefördert werden. Will heißen: Alle Schulen endlich ans Netz, alle Lehrkräfte entsprechend weiterbilden. Die Industrie will Rechner und Internetzugänge spenden. Der Druck ist so groß geworden, dass die Deutschen sich ihre zögerliche Haltung nicht mehr leisten können.

Doch schon ist das nächste Problem zur Hand: „Nach der Informatisierung der Wirtschaft könnten wir eine Biologisierung bekommen“, meint der Zukunftsforscher Karlheinz Steinmüller. Gesundheit, Lebensverlängerung, Biotechnik in der Landwirtschaft – wenn die Felder in der Informationsindustrie bestellt sind, könnten diese Bereiche aufblühen.

Nur: Die Deutschen zieren sich wieder. „In der Gentechnik sehen Sie das ganz deutlich“, spöttelt Fakultätentag-Chef Hantzschmann. „Da verpassen wir schon wieder den Anschluss.“

Zitate:

INFORMATIKER HANTZSCHMANN

„Man hätte die Schüler begeistern müssen für die neuen Möglichkeiten“

ZUKUNFTSFORSCHER STEINMÜLLER

„Nach der Informatisierung der Wirtschaft kommt wohl die Biologisierung“