Stammgast ohne Reue

Wahre Lokale (11): Das feen- und buchtenreiche „Dieze-Köpi“ in Hamburg

Sie fragte, ob ich mir den manchmal knochenharten Stammgastdienst wirklich zutraue – sich mit Gefälligkeitsattesten des Hausarztes aus der Präsenz schwänzen, sei hier nicht drin

Lange bevor („Gernegroß“) Gorbatschow sich mit der CIA über die Auslieferung der Sowjetunion und ihrer Vorgärten an die Leitwährung der Ausbeutung einig geworden war, lange bevor Emma Schwarzer das von der Menschin erkämpfte Muschirecht auf Vollkontakt mit dem shot-Knopf im (sic!) Cockpit der F 14 emphatischer feierte denn das Lerchenküken sein ex ovo begrüßt, lange bevor der Kitzbüheler („Schwätzmermal“) Beckenbauer, auf Jörg Haider angesprochen, sagte „Wo is das Problem?“ – las ich im Stellenangebotsteil des „Hamburger Immigrantenblattes“ dieses Inserat: ANGEBOTE DER GASTRONOMIE.

„Namhafte Gastwirtschaft in Uninähe hat in Buchte fünf (Fenster zum Garten hin) noch einen wirbelsäulenfreundlichen Sitzplatz frei. Gesucht wird ein solventer, verzehrfroher, aktiv oder passiv rauchender, zum Nichtnerven neigender sowie lokalverbotsunbelasteter Herr mittleren Alters mit akademischer oder wenigstens Herzensbildung. Eilbewerbung mit Lebenslauf, Vermögensnachweis und Leumundszettel unter Chiffre ‚Jensi‘.“

Ich hatte bis dahin schon zahlreiche Einkehrstätten ausprobiert, darunter so renommierte wie den „Hornlosen Bock“ in Blankenese, die „Zwirbeldüse“ im Schanzenviertel und die legendäre holländische Weinstube „Datwaars“ in Hamburgs grüner Lunge Ohlsdorf, war aber mit keinem dieser Lokale wahrhaft herzeins geworden. Würde ich über dieses Inserat mein Gastwirtschaftsglück machen? Skeptisch sandte ich die Bewerbung ab. Nach drei Wochen kam der nicht mehr erhoffte Brief; ich sei in engster Wahl und möge mich persönlich vorstellen, am 15. März 1985, 15 Uhr. Columbus betritt Westindien, Einstein notiert E = mc[2], die Beatles haben Sergeant Pepper fertiggemischt – von vergleichsweiser satisfaction war ich im Augenblick der Erstbegehung des „Dieze-Köpi“ erfüllt. Was ein anmutiges, ganz der perikleisch-peripatetischen Schankwirtschaft nachempfundenes Ambiente: Zentral die viereckige Deckenstütze mit der in Ellbogenhöhe eingearbeiteten Gläserablage, stirnwärz der vom sortenüppigen Schnapsregal hintergründete Tresen mit den auf den Gast gespannten Zapfhähnen und den Hockern davor für den durchreisenden Durst, ein süßes Elefantentischchen, zwei Rundtische ebenerds, und dann – die sechs, von exotischem Indoorevergreen, süßen Artdekoolämpchen und illuminierten Globen eingefassten, an die zaubrische Parkplatzaura karibischer Yachthäfen erinnernden Buchten. Und welche Wonne obendrein: Nirgendz Maulaffen feilhaltendes Metall und grabsteinkalter Stein, wovon die Erlebnisboazn der Internetgeneration voll damit, sondern alles in betagtem Holz, dem wundersam nachatmenden Baumstoff. In meine anhaltende Seligkeit trat eine Dame von der dunklen Schönheit Jeanne Moreaus: „Ich bin Ulrike“, sagte sie, „Jensis Prokura“, ob ich mir denn den manchmal knochenharten Stammgastdienst wirklich zutraue, mal kommen, mal nicht oder gar sich mit Gefälligkeitsattesten des Hausarztes aus der Präsenz schwänzen, das sei hier nicht drin. Nachdem ich meine Kondition leidenschaftlich beschworen hatte, hieß sie mich „kurzma“ warten und währendessen einen Blick in „Kürschners Deutschen Kneipen Guide“ werfen, „hier auf Seite 769“. Sie verschwand in die Küche, wo, wie ich später erfuhr, Jensi ein frisches Chili con carne ansetzte, und ich las:

Was für Indien das Touchmichmal ist / Und für den Tangoargentina das Knie / Das ist in Hamburg das „Dieze-Köpi“ / Für die humanistische Gastronomie // Hier geben sich Mensch und Mitmensch / Ein liebwertes Stelldichein / Bei kühlem Hopfenshampoo / Und Rebsaft von Rhone und Rhein // Und Sättigungskreationen / Der alten und neuen Cuisine / Vom klassischen Kassler an Grünkohl / Bis zu Fleischchips vom Hermelin // Hier reizt man als Skater sein Blatt aus / Hier spielt man kopfaufgestützt Schach / Oder schüttelt beim Würfelbechern / Drei Einser aus Dach und Fach // Hier disputieren Studenten bei Earl Grey / Und Frührentner fühlen sich reif / Für den Escorial grün before sunset / Und dazu spielt Dave Brubecks „Take five“ // Preise fast wie vor dem Kriege / Erfreun den der knapsen muß sehr / Doch zahlt auch der Millionär nur / Für das was er hatte (nicht mehr) // Fazit: ein flottes Treiben / Auf der Basis der Friedfertigkeit / Seitens Herrn mit und ohne Bärten / Und Fraun mit und ohne Kleid // Wertung: Das „Dieze-Köpi“ / In Hamburgs Rappstraße 1 a / Kommt der perfekten Kneipe / Näher als wie nur nah.

Ich war kaum durch damit, da schoss Ulrike auf mich zu, nahm mich in die Arme und sagte: „Jensi meint auch, Glückwunsch, Hotte, Sie haben den Platz in Buchte fünf.“

Das war auf den Tag vor fünfzehn Jahren. Der Mensch bereut, solang er lebt, die Ehe, den mangelnden Sicherheitsabstand bei Nebel auf der A9, die Zinsgier beim Containerinvestment oder den Billigflug in den Tod. Ich, an Heiligabend 99 von Ulrike und Jensi in den „Zwölferclub der Gaststubenältesten“ feierlich einberufen, habe jeden Tag im „D-K“ rückhaltlos genossen: Die wie in den Wiener Coffeeshops kostenlose Lektüre der Tagesblätter und Illustrierten, die dem Hirnverschleiß widerwirkenden, oft das Morgengrauen touchierenden Geprächseinheiten mit den Umtrunksgefährten, über die Politik als Hure, das Wendische des Wetters oder auch den Unterschied zwischen der Enge der Arterien und der Weite des Weltraums, und – die Servierkunst der Bedienungsdamen, die einem den Nachdurst feengleich von den Lippen lasen. Nicht mehr lange, und das von Birke, Eberesche und Rhododondron behütete, rosenbeduftete Wirtsgärtlein öffnet wieder, und die Gäste wohnen hautnah (kann man so sagen!) den furchtlosen Versorgungsflügen der Amsel-Altvögel bei, und jedes monotone FoodFoodFood!-Gekreisch der Brut im Knöterich-Neste, in das Bierfilzfetzchen und Zigarettenkippen eingearbeitet sind (!), wird Gott näher sein als die vielsprachige Osterschallplatte vom Papstbalkon. HORST TOMAYER