Stille Betriebsunfälle

Roland Schimmelpfennig, neuer Hausautor der Berliner Schaubühne, lässt in „Vor langer Zeit im Mai“ die letzte Utopie gegen die Wand fahren

von NIKOLAUS MERCK

„Vor langer Zeit im Mai“ heißt das neue Stück von Roland Schimmelpfennig. Nicht das ganz neue, denn die „einundachtzig kurzen Bilder für die Bühne“ hat der neue Hausautor und Dramaturg der Berliner Schaubühne bereits 1996 geschrieben. Und weil es, wo Mai draufsteht, immer um die Liebe geht, ist die Sache noch viel älter. „Im wunderschönen Monat Mai, / als alle Knospen sprangen, / da ist in meinem Herzen / die Liebe aufgegangen“ (Heine).

Der 33 Jahre alte Schimmelpfennig gilt als Lyrikkopf unter den Jungdramatikern, wahrscheinlich weil seine Stücke so federleichte Titel wie „Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid“ tragen. Er hat bereits allerhand auf sein künstlerisches Kerbholz gebracht. In Dieter Dorns Münchner Kammerspielen schaffte er es vom Regieassistenten zum Mitglied der künstlerischen Leitung, schrieb Hörspiele, Theaterstücke in veritabler Anzahl, gleich das erste erhielt den Else-Lasker-Schüler-Preis. In einem seiner Werke will ein „Mann am Kanal“ den Mond sprengen, damit die Menschheit den Zustand der Schwerelosigkeit erreicht. Das hat uns – irgendwie – imponiert. Und als sich Roland Schimmelpfennig am Montagabend nach 75 Minuten, in denen ziemlich viele Radfahrer gegen immer die gleiche Wand gefahren waren, die wir aber nicht gesehen haben, weil sie ihren Part unter der Zuschauertribüne gespielt haben, als sich der Lyrikkopf also nach der Uraufführung seiner einundachtzig Betriebsunfälle der Liebe in der Schaubühne poetengemäß linkisch verbeugte, hat er uns mit seiner riesigen Hornbrille und dem viel zu weiten Anzug so begeistert, dass wir am liebsten laut gejuchzt hätten angesichts dieser Dichterdarstellerchuzpe.

Schimmelpfennig hat geschrieben und Barbara Frey inszeniert. Aber eigentlich gehörte diese „Stunde, da wir gegen die Wand knallten“ der Ausstatterin Bettina Meyer. Sie hat ein Stück Radrennbahn in die Apsis am Lehniner Platz gebaut. Apsis ist immer da, wo Bauwerke halbrund auslaufen und die Rennbahnkurve an dieser Stelle ist, wie es sich gehört, überhöht. Seltsamerweise sind am Rand der Bahn Klappsitze, und noch merkwürdiger, dass die Rennfahrer – meistens Herren in Anzügen – gar nicht auf der Bahn, sondern eine Etage tiefer auf einem mit, wir vermuten, Sägespäne bestreuten Parcours Runden drehen. Auf diese Kellerhalbarena schauen die Zuschauer herab. Sie sehen unter der Rennbahn Türen, die heftig frequentiert, aber immer sachte ins Schloss gedrückt werden. Rokokodamen segeln herein, halten inne, segeln wieder hinaus. Liebespaare küssen sich. Dazwischen wird es dunkel. Dann wieder hell. Junge Frauen verteilen die Sägespäne „behutsam“ mit seltsamen Netzbesen.

Sonst ist nichts seltsam. Weil das Szenario, naturgemäß, an Peter Handkes „Stunde, da wir nichts voneinander wussten“ erinnert. Und das, was „Sie“ und „Er“, verkörpert von Stephanie Eidt und Kay Bartholomäus Schulze, miteinander erleben, wir ja alle, alle kennen: das Scheitern der, laut Schaubühne, letzten Utopie, der Liebe. Sie und Er sitzen den Zuschauern gegenüber auf den Klappsitzen, und wir stellen uns vor, diese beiden Liebenden sind sich nach langer Zeit wiederbegegnet. So wenigstens verhalten sie sich. Sie wissen nicht, was anfangen, verheddern sich in einer Handvoll Sätzen, in denen es um das Schicksal eines Fahrrades und eines Koffers geht. Hauptsächlich. Verheddern sich, weil sie von dem, was sie beschäftigt, nicht sprechen wollen. Warum sind wir auseinander gegangen? Was hast du erlebt? Liebst du mich noch? Darum geht es, aber davon wird nicht geredet. Weil Schimmelpfennig-Menschen Geheimnisse haben, auch wenn die nur in ihrer Sprachlosigkeit bestehen. Deshalb gibt es unten, auf den Sägespänen, die Illustration dazu, Fetzen von Gedanken, Gefühlen und Radfahrer, die gegen Wände fahren, die wir nicht sehen können.

Der Beton der Schaubühne dräut, Schumann klingt bloß im Kopf, und Heine, ach Heine, ward zu Schimmelpfennig. „Hast du das Fahrrad noch? – Das Fahrrad! Ja, das Fahrrad ...“. Einmal wird das ehemalige Paar an der Radrennbahn geil und handgemein, da entpuppt sich das Junge als das Alte. Weil es, natürlich, Er sein muss, der ihr an die Wäsche will, derweil Sie noch gar nicht weiß, ob sie Lust hat zur guten alten Körperschlacht. Und noch bevor Sie sich klar wird, sind unten schon alle Rokokodamen, leicht bekleideten Frauen und Anzugmänner zusammen auf einem Fahrrad gegen die Wand gefahren, und oben die beiden rutschen bäuchlings über die Rennbahn, und aus ist's mit Sex und Liebe und nicht wissen, wo zuerst hinfassen.

Da lachen die Zuschauer, und die Schaubühne ist mit ihrem selbst verordneten Postulat „Wir müssen wieder von vorne anfangen“ immer noch nicht zum Nullpunkt vorgedrungen. Nur bis zur Spätpubertät.

„Vor langer Zeit im Mai“ von Roland Schimmelpfennig. Regie: Barbara Frey. Mit Stephanie Eidt und Kay Bartholomäus. Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin. Nächste Vorstellungen: 20. und 21. März 2000