Blocks und Baldachine

Gruppenbild mit Marktwert: Die vom Museum of Modern Art mitorganisierte Ausstellung „Greater New York“ im P.S.1 ist Schaukasten für die Arbeiten von ortsansässigen 150 Künstlern. Der Trend geht deutlich zur architektonischen Metapher

von CHRISTOPHER PHILLIPS

Erst kürzlich wurden bei einer Galerieeröffnung im New Yorker Viertel Chelsea sämtliche Arbeiten der Ausstellung – Fotografien eines viel versprechenden, aber noch unbekannten jungen kubanisch-amerikanischen Künstlers – innerhalb der ersten halben Stunde von eifrigen Sammlern regelrecht abgeräumt. Was war der Grund? Es war gemunkelt worden, dass der Künstler ausgewählt sei, an der Ausstellung „Greater New York“ teilzunehmen – dem ersten großen gemeinsamen Projekt des Museum of Modern Art (MoMA) und P.S.1, jenem legendären experimentellen Vorposten in Long Island City, nach ihrem Zusammenschluss im letzten Jahr. Für den Rest des Abends wurde der Galerist von verzweifelten Sammlern bestürmt, die abwechselnd darum flehten oder forderten, kaufen zu dürfen, was auch immer der Künstler demnächst fertig zu stellen beliebte.

Diese weit verbreitete Stimmung von fiebriger Habgier in der Kunstwelt, die stark dem Kaufrausch ähnelt, der gegenwärtig die Börse bei den Erstzeichnungsgeboten von Internet-Gesellschaften heimsucht, erklärt, warum sich kürzlich tausende von neugierigen Besuchern an einem kühlen Sonntagnachmittag vor dem P.S.1 aufreihten und ungeduldig darauf warteten, in die Ausstellung „Greater New York“ eingelassen zu werden. Angekündigt als ein Schaukasten für 150 New Yorker Künstler, von denen man glaubt, dass sie demnächst groß rauskommen, bestätigt die Ausstellung vor allem, dass die Gründerin von P.S.1, Alanna Heiss, auch nach 25 Jahren Direktorat eine Autorität ist, mit der man rechnen muss. Für das langjährige MoMA-Personal waren sowohl die Geschwindigkeit als auch die Improvisationsfreude bei der Ausstellungvorbereitung offenbar absolut Schwindel erregend.

Die Atelierbesuche von Direktor und Kurator

Es war Heiss, die darauf bestand, dass „Greater New York“ in nur vier Monaten auf die Beine gestellt werden könnte – weit entfernt vom üblichen Fünfjahresplan, der sonst für die eigenen Ausstellungen des MoMA gilt. Ebenso setzte sie durch, dass sich alle Abteilungen des MoMA an der Ausstellungsplanung beteiligen sollten. Daraufhin machten erstaunliche Berichte die Runde: Junge Künstler aus Brooklyn bekamen plötzlich in ihren Ateliers Besuch vom Direktor des MoMA, Glen Lowry, oder von dessen Starkurator Kirk Varnedoe, der für die extravagante Jackson-Pollock-Ausstellung im letzten Jahr verantwortlich war. Insgesamt wurden die Arbeiten von mehr als 2.000 Künstlern begutachtet und mehr als 250 Atelierbesuche absolviert. Die endgültige Auswahl wurde demokratisch entschieden, nach dem Votum von ungefähr 30 Kuratoren und anderen Mitarbeitern, die eine aktive Rolle in der Ausstellungsplanung spielten.

Was verrät uns „Greater New York“ nun über die New Yorker Kunstszene? Gleich zu Beginn fällt ins Auge, mit welcher Entschlossenheit die Kuratoren eine neue Seite aufschlagen – die Themen, die die Kunst der 90er-Jahre beherrschten, will man hinter sich lassen. Vergesst die Erforschungen ethnischer und sexueller Identität, scheint die Ausstellung zu sagen; vergesst die Untersuchungen kultureller Differenzen oder Sozialkritik jeglicher Art. Nomadentum? Neokonzeptualismus? Der Körper? Wie passé! Ebenso sucht man vergeblich die anscheinend aus der Mode gekommene, „Sensation“-mäßige Frechheit, die man wohl gerade von jungen Künstlern erwarten dürfte – ihr Fehlen könnte ein Hinweis für den schwindenden Einfluss des MoMA sein. Selbst die letzte Ausstellung im P.S.1, „Children of Berlin“, eine ohnehin schon heruntergefahrene und von allzu anstößigen Stellen befreite Version der Berlin-Biennale von 1998, hatte einen höheren Provokationsquotienten.

Was, wenn De Kooning Pornograph wäre?

Welche künstlerischen Richtungen werden denn nun ausgestellt? Die Malerei in der Schau ist zwar formvollendet, aber rückwärtsgewandt – ein typisches Problem in New York, wo eine regelrechte Vernarrtheit in die örtlichen Meister der Moderne des 20. Jahrhunderts noch immer die Oberhand hat. Inka Essenhigh bietet uns glänzende Updates der surrealistischen Bilderwelt an. Lisa Ruyter bedient sich ins Auge springender Leuchtfarben, um ihre poppigen Arbeiten aufzuheitern. Und Cecily Brown benutzt in ihrer Performance auf der Leinwand auffällige, abstrakt-expressionistische Pinselstriche, wenn sie eine nackte Frau abbildet, die sich mit gespreizten Beinen an ihrem männlichen Sexualpartner tatkräftig zu schaffen macht. Eindrucksvoll beantwortet sie die Frage, die zuvor niemandem in den Sinn gekommen wäre: Was, wenn Willem de Kooning ein Porno-Illustrator gewesen wäre?

Das innovativste Bild in „Greater New York“ arbeitet mit Pixeln statt mit Pigmenten. Jeremy Blakes hypnotisches Werk „Angel Dust“ gebraucht digitale Technologie, um die Hinterlassenschaft der geometrisch-abstrakten Malerei auf den neuesten Stand zu bringen. Auf eine frei hängende Leinwand projiziert, die in einer abgedunkelten, unterirdischen Galerie zu schweben scheint, führt „Angel Dust“ ein sich langsam wandelndes Raster von funkelnden Farbblöcken vor, die sich, wie der Künstler sagt, auf seine Erinnerungen an reale oder imaginierte Gebäude beziehen.

Architektur ist in der Tat der „rote Faden“, der sich durch viele der rund 250 sonst eher disparaten Arbeiten zieht, ob es sich nun um Zeichnungen, Fotografien, Filme, Videos oder Installationen handelt. Die derzeitige Faszination für architektonische und räumliche Metaphern ist gewiss weltweit, doch packt sie New York mit besonderer Intensität. Das scheint merkwürdig in einer Stadt, die anders als Paris, London oder Berlin seit nunmehr fast 20 Jahren kein bedeutsames neues Gebäude mehr gesehen hat. Hier hat jedoch das Vermächtnis von Gordon Matta-Clark und Dan Graham noch immer eine starke Anhängerschaft unter den jüngeren Künstlern.

Architektur alsgescheiterte Utopie

Einem Teil dieses Erbes begegnet man in der Arbeit von Dylan Stone wieder, der systematisch jedes Gebäude in jedem Block Manhattans fotografiert. Die daraus entstehenden Drugstore-Abzüge werden in einem riesigen Aktenschrank präsentiert, während ein Fach mit Fotos zur Ansicht verfügbar ist. Aus der eher amüsanten Ecke kommt Olav Westfalens cartoonartiges „Smoke stack“, eine bedrohlich hoch aufragende Skulptur, über der eine aufgeplusterte rosa „Wolke“ aus Fiberglas von der Decke schwebt. Am Eröffnungstag war Do-Ho Suhs „Seoul Home/ LA Home/ New York Home“ der Renner: ein lebensgroßes Modell eines einzigen Zimmers, das aus durchscheinender grüner Seide gefertigt und wie ein Baldachin an der Decke aufgehängt wurde.

Der dänische Künstler Joachim Koester lieferte eines der unspektakulärsten und zugleich denkwürdigsten Werke der Ausstellung: eine Arbeit, welche seine Erforschung der Rolle, die Architektur in den gescheiterten Utopien des 20 Jahrhunderts gespielt hat, fortführt. Früher zeigte Koester Fotografien, die das gegenwärtige Christiana erforschen, die einst blühende Hippie-Enklave inmitten von Kopenhagen. Im P.S.1 zeigt er Farbfotos aus Resolute Bay, der nördlichsten Stadt Kanadas. Dort wurde ein schwedischer Architekt von der Regierung angeheuert, um eine Community nach den Grundsätzen der Moderne zu planen. Am Ende wurde nur ein Block neuer Apartments gebaut. Koester zeigt ihn, wie er isoliert inmitten einer rauen Landschaft steht – die Moderne hat buchstäblich ausgeträumt.

Bei den im P.S.1 ausgestellten Installationen hat der Multimedia-Schnickschnack jeglicher Art zugenommen und ist wohl auch unausweichlich. Selbst die Skulptur-Installationen werden oft begleitet von ihrem eigenen Soundtrack – hämmernde Musik, die in hoch entwickelten Soundsystemen erzeugt wird. Dies war in bemerkenswerter Weise der Fall bei der monumentalsten Installation der Ausstellung: Julian La Verdieres imposantes Denkmal für den ersten, fehlgeschlagenen Versuch, eine transatlantische Telegrafenleitung zu verlegen. Das Werk besteht aus einer zehn Meter hohen, aus schwarzer Gaze hergestellten Nachbildung von Albert Speers berühmtem Deutschen Pavillon für die Pariser Weltausstellung 1937.

Das Kabel, das im Nordatlantik versank

In dieser unheilverkündenden Konstruktion ist eine glasbedeckte Krypta, in der sich ein ausgetüfteltes, detailliertes Drei-Meter-Modell von dem Schnellseglerboot befindet, das sich 1845 auf den Weg machte, das Kabel zu verlegen und dann aber im Nordatlantik versank. Klagende elektronische Musik schwingt durch den Raum und unterstreicht noch den schlichten Verweis auf einen der unrühmlicheren Momente in der Entwicklung der globalen Kommunikationstechnologie.

Mit mehr als einem Drittel der Ausstellungsteilnehmer, die außerhalb der Vereinigten Staaten geboren wurden, demonstriert die Schau, dass New York noch immer junge Künstler anzieht, selbst in einer Zeit, in der die Lebenshaltungskosten vor Ort in astronomische Höhen geklettert sind. Weiterhin merkt man der Ausstellung an, dass auch das MoMA inzwischen akzeptiert, dass die Moderne vorbei ist. Insofern nutzt man die neue Verbindung mit dem P.S.1, um sich auch auf dem Feld der zeitgenössischen Kunst als stark zu präsentieren. Immerhin könnte diese Art allgemeiner Überblicksschau zum regelmäßigen Projekt des P.S.1 werden. Solch ein Ereignis könnte dann sogar mit der Whitney-Biennale konkurrieren. Übersetzung: PATRICIA WOLF

Greater New York, bis 16.5., P.S.1, Long Island City, New York. Abbildungen der Arbeiten wie auch Kritiken werden demnächst auf der Website erscheinen: (www.ps1.org).Christopher Phillips ist Senior Editor der Kunstzeitschrift Art in America