„Poesie im Schatten von Pershing II“

■ Zwanzig Jahre danach: Jossi Wieler inszeniert im Schauspielhaus die Hamburger Erstaufführung von Tankred Dorsts Monumentalstück Merlin oder Das wüste Land

Die fette Hanne, eine travestierte Muttergottes, hat soeben den Zauberer Merlin geboren. Das bärtige Baby unterhält sich mit seinem Vater, dem Teufel. Merlin: „Mir fehlt etwas... aber ich kann es nicht nennen.“ Der Teufel: „Du meinst: Die Zukunft. (...) Alles endet im Tod!“ Merlin erschrickt: „Wie schrecklich enden sie! Oh die armen Menschen, überall auf der Erde!“ Er sieht über die Zuschauer hin: „So schrecklich enden sie!“

Diese dräuende Betroffenheitspoesie passt gut zu einem deutschen Monumentalschauspiel aus den Jahren 1978-81. Der heute 75-jährige Tankred Dorst wollte Merlin oder Das wüste Land 1979 auf dem Hamburger Festival „Theater der Nationen“ uraufführen lassen. Doch daraus wurde nichts. Jetzt, in der Abschiedsspielzeit Baumbauers, wagt sich das Schauspielhaus an die Hamburger Erstaufführung des 280 Seiten langen Dramas über die Ritter der Tafelrunde.

Der Teufel: „Du hast eine Aufgabe vor dir. (...) Die Menschen zum Bösen befreien! Das Böse ist ihre eigentliche Natur. Darin liegt ihre Lust, dazu sind sie bestimmt.“ Dorst erzählt eine Gegen-Heilsgeschichte, sein Stück ist eine Parodie auf die europäische Erfolgsstory von Christentum und Kapital. Er weitet die mythische Suche nach dem Gral aus und bezieht neuzeitliche Errungenschaften wie Dampfmaschine, Zeppelin und Auschwitz-Feuerofen mit ein; das „Gral-Bild“ Golgatha ist ein Hügel aus aufgetürmten Trümmern des Zweiten Weltkriegs, umgeben von weitläufigen Parkplätzen; die Ritter bekommen Lehrstunden in Demokratie von Mark Twain, der als Journalist zu Gast ist. Als Artus' Versuch, das wüste Land zu zivilisieren, gescheitert ist, als die letzte Schlacht verloren und alle Ritter tot sind, transzendiert Dorsts Werk endgültig und wird Science-Fiction: „Diese verschieden pigmentierten, androgynen Wesen (...) entwickelten vermutlich eine gewisse Kultur mit primitiven Religions- und Gesellschaftsformen und erreichten wohl zu gewissen Zeiten ein schwaches Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit. Es ist nicht erwiesen, inwieweit sie das Ende des Planeten voraussahen oder sogar herbeiführten. Poesie im Schatten von Pershing II.“

Gott sei Dank ist Dorsts Dramaturgie oft clownesk, süffig, schrullig, mit Anleihen bei Monty Python: Als Artus bei einem keltischen Tischler den Tisch für die Tafelrunde bestellt, kommen die beiden nicht zu einer Einigung, weil der Tischler es ablehnt, einen Tisch zu bauen, an den hundert Ritter passen und der durch die Tür geht. Der Schreiner: „Dann nimm doch einen Ausziehtisch. Oder zwei Tische, oder drei, die kannst du aneinander stellen.“ Artus: „Er muss aber ein Abbild der Welt sein!“

Auf welche Weise Jossi Wieler (Regie), Jens Kilian (Bühne), Gesine Völlm (Kostüme), Wolfgang Siuda (Musik) und das wunderbare Ensemble des Hamburger Schauspielhauses aus diesem Steinbruch großes Theater, aus dem kabarettistischen Welterklärungsfragment ein gutes Stück machen – das dürfte mit Sicherheit spannend werden. Leider muss man auf die Premiere noch ein paar Tage länger warten, da Judith Engel bei den Endproben in einen Bühnenschacht gefallen ist und sich verletzt hat: Sie findet jetzt nicht am 23., sondern am 31. März statt.Michael Dißmeier

Premiere: Fr, 31. März, 19 Uhr, Schauspielhaus