Lasst das Volk wählen!

Die Lehre aus der Parteienkrise sollte die Stärkung der repräsentativen Demokratie sein. Plebiszitäre Elemente bewirken wenig Gutes, erzeugen aber viele Illusionen

von RICHARD HERZINGER

In der Debatte über die Zukunft des Parteienstaats werden immer mehr Stimmen laut, die eine Stärkung plebiszitärer Elemente im demokratischen Entscheidungsprozess befürworten. Na klar: Wer mehr Bürgerbeteiligung fordert, kann sich des Beifalls vom sprichwörtlichen „kleinen Mann“ sicher sein, der gerade mal wieder gar nicht gut auf die Parteienwirtschaft zu sprechen ist. Da wollen sich alle ein bisschen anbiedern: die Grünen, die den Programmpunkt „direkte Demokratie“ noch als leicht angestaubten Artikel aus ihren basisdemokratischen Urzeiten auf Lager haben; die FDP, die eine günstige Gelegenheit sieht, ihr verblasstes Image als Bürgerrechtspartei aufzupolieren; und nicht zuletzt führende CDU-Politiker wie Jürgen Rüttgers, denen das allgemeine Palaver über die Auswüchse des Parteienstaats gerade recht kommt, um von den spezifischen Missetaten der Christdemokraten abzulenken.

Kohl wäre stets zumCDU-Chef gewählt worden, hätte die Parteibasis in Urwahlen darüber befunden

Man fragt sich jedoch, was die Debatte über mehr Bürgerbeteiligung eigentlich mit dem aktuellen Problem illegaler Parteienfinanzierung zu tun haben soll. Die Vorstellung, Amtsträger würden weniger rücksichtslos an der Macht kleben oder unlauterer Bereicherung abgeneigter sein, wenn sie direkt vom Volk gewählt würden, ist naiv. Entscheidend ist nicht, von welchem Gremium ein Politiker ins Amt gehoben wird, sondern wie gut die demokratischen Kontrollinstanzen während seiner Amtszeit funktionieren. Kohl zum Beispiel wäre in seiner Glanzzeit mit Sicherheit auch dann regelmäßig zum Parteivorsitzenden wieder gewählt worden, wenn die Parteibasis in einer Urwahl darüber hätte befinden können. Hätte er aber deswegen seine schwarzen Konten aufgelöst? Eine direkte Legitimation durch die einfachen Parteimitglieder hätte ihn eher darin bestärkt, sich über die Kontrollinstanzen des Parteiapparats erhaben zu fühlen und den ganzen Verein als seinen persönlichen Besitz zu betrachten. Daher muss der jetzt immer drängender werdende Wunsch des CDU-Parteivolks, über die Nachfolge Wolfgang Schäubles qua Mitgliederbefragung zu entscheiden, mit Skepsis betrachtet werden. Ein Mitgliedervotum darüber, welche Person die Partei führen soll, könnte von der dringend notwendigen inhaltlichen und programmatischen Auseinandersetzung ablenken, die in der Kohl-CDU über viele Jahre hinweg verhindert wurde.

Was also in den Parteien scheitern muss, wie soll es in der Demokratie funktionieren: Wie soll direkte Bürgerbeteiligung Fälle von Korruption bei der Vergabe öffentlicher Aufträge verhindern? Hätte man etwa Volksabstimmungen über den Verkauf der Leuna-Werke veranstalten sollen? Selbst wenn so etwas möglich wäre: Die schönste demokratische Mitwirkung läuft ins Leere, wenn der Öffentlichkeit Tatsachen verschwiegen oder Machenschaften verheimlicht werden. Da ginge es den Bürgern nicht besser als Untersuchungsausschüssen, Medien und Staatsanwälten.

Überhaupt: Worauf stützt sich eigentlich der Glaube, „das Volk“ werde es eigenhändig besser richten als seine Repräsentanten? Im liberalen Rechtsstaat existiert „das Volk“ nur als ein gedachtes Ganzes und nur im Augenblick des Wahlakts. In dieser Situation bildet die Summe aller Wahlberechtigten ein ideelles Subjekt als oberster Souverän. Zwischen den Wahlen aber ist „das Volk“ ein fiktiver Begriff – es gibt dann nur einzelne Bürger, eben die Bevölkerung, mit allen ihren gegensätzlichen Interessen und Bedürfnissen. Individuen also, die nicht mehr oder weniger prinzipienfest oder korrupt sind als die Personen, die von ihnen in öffentliche Ämter gewählt werden. „Das Volk“ als Einheit mit einem geschlossenen Willen ist ein Mythos. Und schon gar das gute Volk, das in seinem unschuldigen Herzen unverdorben und gerecht sei. Nicht zufällig hat die europäische Rechte, allen voran Jörg Haider, das Thema „Volksentscheid“ längst als Mobilisierungsinstrument für sich entdeckt. Politiker, die vorgeben, mit der unverfälschten Stimme des Volkes zu sprechen, sind nach aller historischen Erfahrung nicht nur die verlogensten, sondern auch die korruptesten.

Volksabstimmungen sind in einer freiheitlichen Gesellschaft nur zulässig, wenn ihr Ergebnis die Sphäre der Grundrechte unangetastet lässt. Über die Todesstrafe darf ebenso wenig abgestimmt werden wie über die Unterbringung von Asylsuchenden oder die Behandlung von Ausländern. Grundrechte sind der Willkür von Volkes Stimme entzogen, weil ihr Sinn gerade im Schutz des Einzelnen oder von Minderheiten vor dem Willen der Mehrheit besteht.

Politiker, die vorgeben, mit der unverfälschten Stimme des Volkes zu sprechen, sind oft auch die korruptesten

Es wäre freilich denkbar, dass man eine Volksabstimmung – sagen wir mal: über den Ausstieg aus der Atomenergie und die Laufzeiten bis zur Abschaltung aller AKWs – durchführt. An den Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung solcher Maßnahmen würde dies aber nichts ändern. Es müssten dennoch Konsensgespräche über Fragen der Entsorgung geführt oder das Vorgehen mit den europäischen Partnern harmonisiert werden.

Nicht weniger fraglich ist, ob durch Plebiszite tatsächlich der Einfluss der Parteien zurückgedrängt würde. Vor jeder Volksabstimmung würde die Propagandamaschinerie der Parteien auf Hochtouren laufen. Wäre über die Einführung des Euro das Volk befragt worden, hätten die staatstragenden Parteien mit Sicherheit alles daran gesetzt, die Mehrheit zur Stimmabgabe in ihrem Sinne zu bewegen. Neben den regulären Wahlkämpfen müssten die Parteien bei Volksabstimmungen also noch zusätzliche Materialschlachten schlagen. Sie bräuchten noch mehr Geld, sprich: noch mehr Spenden und staatliche Mittel.

Zudem verstärkt der Ruf nach mehr Bürgerentscheiden eine populistische Tendenz, die sich seit Jahren in der politischen Klasse abzeichnet. So hat Gerhard Schröder die Niedersachsen-Wahl 1998 zu einem Plebiszit über seine Kanzlerkandidatur umfunktioniert. Volker Rühe hat diesen Schachzug jüngst bei der Schleswig-Holstein-Wahl kopiert. Die Neigung charismatischer Führungsfiguren, über die Institutionen hinweg an die unpolitischen Affekte der Bevölkerung zu appellieren, würde durch zusätzliche plebiszitäre Elemente noch verstärkt. Man muss nur an die Unterschriftenkampagne der Union gegen das rot-grüne Staatsbürgerschaftsgesetz denken, um zu ermessen, wie groß die populistische Verführung bei den demokratischen Parteien durch die Möglichkeit von Volksbegehren würde.

Die Konsequenz aus den jüngsten Parteienskandalen sollte die Festigung der Prinzipien der repräsentativen Demokratie sein, nicht ihre Diskreditierung. Die romantische Illusion von der Politik als dem Ausdruck eines ganzheitlichen Volkswillens und die Sehnsucht nach Übereinstimmung von Macht und Moral führt in die Irre. Stattdessen sollte das Bewusstsein für die Bedeutung formaler, institutionalisierter Verfahrensregeln gestärkt werden. Denn die sind ja gerade von Politikern missachtet worden, die sich im Besitz eines direkten Regierungsauftrags vom deutschen Volk wähnten.