Lieber Kaffee als chinesischen Tee

Am Samstag wählen die Taiwaner zum zweiten Mal in freier Wahl ihren Präsidenten. Der Wahlkampf offenbart die neue Identität der Insulaner

aus Taipeh und Hualien CHIKAKO YAMAMOTO

Wie eine antike Oase inmitten moderner Beton- und Blechwüsten lockt der Drachenbergtempel in Taipeh die Taiwaner zum Gebet. Auf geschwungenen Tempeldächern tanzen bunte Drachenfiguren, unter denen von Weihrauch durchzogene Gebetshallen von roten Laternen erleuchtet werden. Hier müssen sich die Bürger von Taipeh einmal zu Hause gefühlt haben. Doch das dürfte lange her sein, vielleicht im 19. Jahrhundert, als Taiwan noch zu China gehörte.

Richtig wohl fühlen sich die Taipeher nunmehr nebenan, im trendigen „Quartier Latin“ nahe der führenden Universität, wo die italienischen Lokale bereits im März ihre Terrassen eröffnet haben und die in japanische Teenie-Moden gehüllten Studenten lieber amerikanischen Kaffee als chinesischen Tee schlürfen. In einem Starbucks-Café diskutiert ein junges Pärchen, beide Erstsemester in Philosophie, das Thema Präsidentschaftswahlen.

Am Samstag werden die Taiwaner zum zweiten Mal in freier Wahl einen neuen Präsidenten küren. Bei den ersten freien Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren wurde der Vorsitzende der seit 1949 ununterbrochen regierenden nationalistischen Kuomintang-Partei (KMT), Lee Teng-hui, im Amt bestätigt. Lee führte die Insel in der Reformdekade zwischen 1986 und 1996 von der Diktatur in die Demokratie. Jetzt darf der populäre 77-Jährige nicht mehr kandidieren, und unverhofft wurde der Wahlkampf auf der Insel spannend.

„Ich bin auf keinen Fall für Chen Shui-bian von der Opposition“, sagt die Philosophiestudentin Wang Shih-ting. „Er hat sich zwar als Bürgermeister von Taipeh bewährt. Aber seine Partei (die Fortschrittspartei DPP, d. Red.) tritt mit ihrem Programm für die Unabhängigkeit Taiwans ein, und wenn er Präsident wird, gibt es sicher Ärger mit China. Davor habe ich Angst.“

Ihr Freund widerspricht: „Ich wähle Chen, weil die Kuomintang zu viel Geld hat, zu lange an der Macht war und deshalb korrupt ist. Wir brauchen einen jungen Präsidenten, der sich für Reformen einsetzt“, sagt Chou Pei-feng (22). Seine Freundin gibt ihm insofern Recht, als dass die KMT unwählbar sei. Sie wird sich deshalb für James Soong entscheiden, einem Dissidenten der KMT, der ohne Partei kandidiert, aber als populärster Politiker der Insel gilt. Soong und Chen führen derzeit die Wahlumfragen mit gleichen Stimmanteilen an, während der eigentliche Favorit im Rennen, der offizille KMT-Kandidat und Vizepräsident Lien Chan, auf dem dritten Platz liegt.

Doch der Abstand zwischen den Kandidaten ist meist geringer als die Fehlermarge der Umfragen. Und so fiebern 22 Millionen Taiwaner – weniger als zwei Prozent der chinesischen Bevölkerung – auf einer Insel, die nicht größer als Baden-Württemberg ist, dem Wahltag entgehen, als sei für sie die Demokratie das Selbstverständlichste auf der Welt. Dabei wächst die Kluft zwischen den Taiwanern und den 1,25 Milliarden Chinesen auf dem Festland von Tag zu Tag. Sie war wohl noch nie so groß wie heute.

Die Taiwaner wissen, dass sie offiziell nur Bürger einer chinesischen Provinz sind. Seit der KMT-Gründer und Generalissimo Chiang Kai-shek 1949 den Bürgerkrieg gegen Maos Kommunisten verlor und mit seinen Soldaten auf die Insel floh, betrachten sich beide Regierungen in Taipeh und Peking als einzig legitime Nachfolger der großen Kaiserreiche. In diesem Sinne verfolgt nicht nur Peking, sondern auch Taipeh die so genannte Ein-China-Theorie, derzufolge beide Regime auf den Tag der Wiedervereinigung warten, an dem sich ihr jeweiliges politisches System im ganzen Land durchgesetzt haben soll.

In der Volksrepublik ist die Ein-China-Theorie heute populärer denn je. Nach der erfolgreichen Wiedereingliederung der Ex-Kolonien Hongkong und Macao scheint sich ein Anspruch auf die Rückkehr Taiwans für viele Chinesen geradezu automatisch zu ergeben, und die ideologisch ausgelaugte kommunistische Führung in Peking tut alles, um sich den im Zuge der Wiedervereinigungsforderung erwachenden Nationalismus auf die eigenen Fahnen zu schreiben. Niemand war deshalb überrascht, als die chinesische Regierung mitten im taiwanischen Wahlkampf ein Taiwan-Weißbuch veröffentlichte, in dem alte Invasionsdrohungen gegen die Insel noch einmal propagandagerecht aufgefrischt wurden. „Wir sind an Provokationen gewöhnt und regen uns nicht mehr jedesmal auf“, sagt Arthur Jap (48), Politologe am Taiwan Research Institute in Taipeh.

Doch nicht nur Coolness gegenüber dem ewigen Säbelrasseln der Kommunisten macht sich auf Taiwan breit. Die Inselbewohner stehen auch nicht mehr zur historischen Tradition Chinas und zum Glauben an die größte Nation der Welt. Nur noch zwölf Prozent der Bevölkerung betrachten sich als Chinesen, vor sechs Jahren waren es noch 48 Prozent. Dagegen bezeichnen sich 37 Prozent als Taiwaner, und 45 Prozent sagen, dass sie beides sind: Taiwaner und Chinesen.

Nirgendwo ist ein Stück chinesischer Gesellschaft heute so durchmodernisiert, demokratisiert und globalisiert wie auf Taiwan – weder in Hongkong noch in Singapur und erst recht nicht in der Volksrepublik. Stolz spricht der Herausgeber der englischsprachigen Taipei Times, Antonio Chiang, von der „ersten und einzigen chinesischen Demokratie“. Stolz sind die Taiwaner auch darauf, dass ihre kleine Insel einen Platz unter den fünfzehn größten Handelsnationen der Welt gefunden hat. Wohlstand und Demokratie aber wirken wie ein Spaltmittel auf die ohnehin gestörten Beziehungen zum Festland.

Wer heute in Taiwan gewählt werden will, muss zweisprachig sein. Bei Fernsehdebatten hat sich eingebürgert, dass die Teilnehmer die Sprachen während einer Sendung häufig wechseln. Meist beginnt man in Mandarin und landet bei Alltagsthemen bei Taiwanisch. Schon wagt keiner der drei ausssichtsreichen Präsidentschaftskandidaten mehr, von seinem chinesischen Familienstammbaum zu reden. Alle sind sie nur noch Taiwaner. Würden sie das eines Tages in der Verfassung ihrer Insel kundtun, zweifeln außenpolitische Experten nicht daran, dass die Volksarmee vom Festland aus angreifen würde.