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Schnipp und schnapp

Der erste Haarschnitt orthodoxer Juden findet am dritten Geburtstag statt und markiert den Beginn der religiösen Erziehung. Nicht alles wird gestutzt. Dem dritten Buch Moses folgend, bleiben die Schläfenlocken: die Pejes

Von HANS ULRICH DILLMANN

Wie ein barocker Posaunenengel wirkt das Kind. Pausbackig und rosig. Das runde Gesicht wird von hellblonden Locken umrahmt. Sie reichen bis auf die Schultern. Auf dem Hinterkopf trägt der Junge eine kleine, runde, blau samtene Kippa. Die jüdische Kopfbedeckung ist mit hebräischen Schriftzeichen umsäumt. Dazu ist er in eine schwarze Hose gekleidet und in ein weißes Hemd, unter dessen Kragen ein samtenes Tuch zur Fliege gebunden ist. Der Junge heißt Levi Yitzchak Schtroks, hat gerade seinen dritten Geburtstag gefeiert, lebt in Köln – und ist Mitglied einer jüdischen Gemeinde, die rund 3.600 Mitglieder zählt.

Heute ist der große Tag im Leben des kleinen Levi Yitzchak – alles dreht sich um ihn. Mit staunendem Blick nimmt er auf einer kleinen Empore sitzend im Gemeindesaal der Synagoge in der Roonstraße die Aktivitäten um sich herum wahr. Zum ersten Mal seit seiner Geburt werden ihm die blonden Locken geschnitten. Mit dem Opschernisch, dem Schneiden der Schläfenlocken, beginnt die eigentliche religiöse Erziehung des orthodoxen Jungen. „Die Kindheit ist beendet“, sagt Vater Schtroks.

Paradox. Während in orthodoxen Familien die Jungen bis zu ihrem dritten Lebensjahr mit langem Haar herumlaufen, werden die Haare der Mädchen schon frühzeitig bis auf Streichholzlänge gekürzt.

Angespannt aufgeregt lässt der kleine Schtroks die Prozedur über sich ergehen. Sein Vater, der Chabad-Lubawitscher Rabbiner Mendel Schtroks, hat zuvor alle „Kohaniten, Leviten und dann alle Freunde und Bekannten hier im Saal“ aufgerufen, so „wie es unsere Tradition ist“, eine Locke vom Haarschopf seines Sohnes abzuschneiden. – Allerdings werden nicht alle Haare gestutzt.

„Ihr sollt nicht die Ecken Eures Haupthaares ringsherum abnehmen“, heißt es im dritten Buch Moses, Kapitel 19,27 über die Schläfenlocken. „Und die Ecken Deines Bartes sollst Du nicht zerstören“, wird dort weiter festgelegt. „Vierzig Haare müssen stehen bleiben“, sagt Schtroks. Wie lang die Pejes allerdings sein müssen, ist nicht vorgeschrieben. Aber die Verbindung zwischen den Backenknochen und dem Haupthaar darf nicht unterbrochen sein.

Dementsprechend wird ein orthodoxer Jude auch niemals sein Barthaar abscheren und so gegen die Gebote verstoßen. Da die Halacha, die religiösen Gesetze, ein Stutzen des Bartes nicht ausdrücklich verbieten, ist es jedoch auch bei strenggläubigen Juden durchaus üblich, mit einer Schere die Barthaare zu trimmen. „Die Haare des Bartes symbolisieren die Warmherzigkeit und die Kraft, die Gott in die Welt gibt“, begründet der schwarz gekleidete Kölner Rabbiner dessen Bedeutung für den jüdischen Glauben.

Direkte Nachfahren der Kohaniten und Leviten finden sich nicht unter den rund einhundert geladenen Gästen. So kommt die „ehrenvolle Aufgabe des ersten Schnittes“, wie es Vater Schtroks bezeichnet, auf den Großvater des Jungen zu. Der ist zu diesem Anlass extra aus Israel angereist. „Der erste, der eine Locke abschneidet“, findet der traditionsbewusste 33 Jahre alte Rabbiner, „soll eine wichtige Person im Leben des Kindes sein.“

Der Saba, wie der Großvater im Hebräischen genannt wird, greift sich eine Haarsträhne und schneidet sie mit der Schere ab. – Schnipp. – Die Locke wird in eine Glasschüssel gelegt. In einer einem Haus nachgebildeten Spardose lässt der stolze Opa mit der dunkelgrauen Kurzhaarfrisur, dem grauen Bart und der Kippa einen Geldschein verschwinden. – Schnapp. – Eine weitere Locke ist ab. – Schnipp. Schon wieder hat die Schere zugeschnappt. Mittlerweile hat sich eine Schlange vor dem kleinen Yitzchak gebildet – und wie selbstverständlich nehmen auch die Frauen an dieser alten jüdischen Tradition teil.

Männer mit dunklen, imposanten Bärten und schwarzen breitrandigen Hüten, modern gekleidete Männer, die am heutigen Tag aus Ehrfurcht vor Gott ihr Haupt mit einer Kippa bedecken, Frauen im „Sonntagsstaat“ mit weißen, rüschenbesetzten Spitzenblusen warten, bis sie an der Reihe sind. – Schnapp. – Jeder und jede tritt vor, greift sich die Schere mit den roten Fingerlöchern. – Schnipp – schnapp, Locke für Locke wird vom Haupt geschnitten.

Eine Frau in einem modernen dunklen Kostüm wünscht einfach nur viel Glück für das weitere Leben – Mazel tow. Ein vielleicht dreißigjähriger Orthodoxer richtet seine Worte ganz traditionell an Mendel Schtroks und seine Frau Luba: „Ihr sollt ihn zu Tora – Gläubigkeit, Chupa – zur Heirat und zu Maazim Tovim – zu guten Taten – erziehen.“

Einige der Lockenschneider nehmen eine Locke von der Haarpracht als Erinnerung mit. Und mit jedem Schnipp und jedem Schnapp wandern ein paar Münzen oder ein Geldschein in das jiddisch Bix genannte Sparhaus. „Das Geld stiften wir für gemeinnützige Zwecke“, freut sich Schtroks.

Während die Beschneidung jedes jüdischen Jungen am achten Lebenstag den „Bund der Väter“ besiegelt und gleichsam die „unsichtbare“ Initiation ist, so bedeutet das erstmalige Schneiden der Haare im dritten Jahr des „männlichen Nachgeborenen“ seine „sichtbare Aufnahme in die Gemeinschaft“. Von diesem Zeitpunkt an trägt jeder streng religiös erzogene Jude „ständig und für alle sichtbar immer eine Kippa“, betont Mendel Schtroks.

Die Tradition des „ersten Haarschnitts“ geht auf den Mystiker und Kabbalisten Isaak Luria zurück. Er ließ im Jahre 1550 in Safed, im Norden des heutigen Israel, seinem Erstgeborenen das erste Mal die Haare schneiden. In Israel wird das Fest Chalakka genannt. Ein arabisches Wort, das glatt respektive kahl scheren bedeutet. Viele arabischstämmige, sefardische Juden feiern die Chalakka am 33. Omer-Tag, deren Zählung mit dem Ende des Pessachfestes beginnt.

An diesem Tag starb auch Rabbiner Simon ben Jochai in Meron bei Safed. Orthodoxe Juden mit dreijährigen Söhnen finden sich deshalb an dessen Todestag in der nordisraelischen Stadt im Vorhof des Grabes ein, um den Beginn der religiösen Erziehung zu feiern. Die abgeschnitten Haare werden gewogen, und entsprechend ihrem Gewicht wird, je nach der materiellen Lage der Eltern, Gold beziehungsweise Silber oder Kupfer an Arme verschenkt. Die Haare selbst werden in einem großen kupfernen Ölbrenner zu Ehren des Rabbis verbrannt.

Zur Versinnbildlichung, warum die Haare auch gestutzt werden müssen, greift Rabbiner Schtroks mit ausladenden Handbewegungen auf die Natur zurück. Die Tora vergleiche den Menschen mit einem Baum. Wie der Baum wachse der Mensch aus „einem Samen“, wie dieser treibe er Äste, reife und trage Früchte. Die Halacha, die religiöse Gesetzgebung der Juden, verbiete den Beschnitt der Bäume in den ersten drei Jahren. In dieser Zeit sei es auch nicht zulässig, die Früchte zu ernten und zu verzehren. Das Gleiche gelte auch für die Haare eines strenggläubigen Juden.

Der Lubawitscher Rabbiner hat seinen Erstgeborenen mit einem Kinderbuch auf diesen großen Tag vorbereitet. Darin wird die Bedeutung des „ersten Haarschnitts“ und der Pejes mit einfachen Worten und vielen kindgerechten, bunten Bildern beschrieben. „Wir hatten Angst, dass er sich wehrt, wenn jeder ihm ein Stück von seinen Haaren abschneidet. Aber er hat es gut ertragen“, kommentiert Schtroks anschließend.

Im Gemeindesaal klappern derweil die Teller und Tassen. Russische, deutsche, jiddische und hebräische Wortfetzen hört man im Raum. Kinder laufen hin und her. „Wo sind meine Haare“, fragt Levi Yitzchak Schtroks am Ende der Haarschneideprozedur seinen Vater, als er auf die plötzlich leere Salatschüssel schaut. Der antwortet nur trocken: „In der Tüte.“

HANS ULRICH DILLMANN, 48, freier Autor in Berlin, er schreibt unter anderem für das taz.mag und die „Jüdische Allgemeine Wochenzeitung“

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