Lastenesel mit weichem Bein

Die Vollfederung hat jetzt auch das Reiserad erreicht. Und funktioniert sogar – wenn das Gepäck nicht mitschwingt

Alle Welt fährt gefedert – nur der Reiseradler nicht. Geht halt nicht, hieß jahrelang die lapidare Erklärung der einschlägigen Hersteller. Wer sich mit dem Fahrrad auf Tour begebe, habe nun mal Gepäck dabei. Mal mehr, mal weniger. Und genau diese Last galt als kritische Masse. Gepaart mit einer üblichen Hinterradfederung würde sich die Zuladung aufschwingen und das Fahrverhalten überaus schwammig machen. Ständiges Tunen wäre die Folge, Überforderung des Benutzers, Wartungsanfälligkeit.

Doch nachdem die Federungstechnik zuerst bei den MTBs und Cross-Rädern den Durchbruch schaffte und mittlerweile auch bei Stadträdern en vogue ist, war es nur eine Frage der Zeit, bis auch Lastenesel damit beglückt werden. Wobei es auch förderlich war, dass in den letzten Jahren vergleichende Untersuchungen mit gefederten und ungefederten Fahrrädern durchgeführt wurden, etwa an der TU Hamburg-Harburg oder der Sporthochschule Köln. Ergebnis: Schwingungen, die von unebenen Fahrbahnen ausgehen und als Stöße auf Gelenke und Wirbelsäule einwirken, können gesundheitsgefährdend sein, aber durch eine korrekt eingestellte Federung erheblich abgemildert werden.

Eben diese Einstellung war bei umfangreicher Zuladung kaum möglich. Die Utopia Fahrradmanufaktur will das Problem jetzt gelöst haben durch eine Hinterradfederung, bei der der hintere Gepäckträger am Federungsprozess schlichtweg nicht beteiligt ist. Ihr Reise-Fully hört auf den Namen Vektor und ist auf den ersten Blick eine gewichtige Erscheinung mit langem Radstand.

Rahmenmaterial: Chrommolybdän-Stahl. Das Besondere an ihm ist jedoch, dass die aufs Körpergewicht des Fahrers abgestimmte Feder sich in unmittelbarer Nähe des Tretlagers befindet. Sie basiert auf Öldämpfung. Die damit verbundene Hinterbauschwinge (Alu) ist sozusagen die Kettenstrebe, über die von unten kommende Stöße abgeleitet werden. So vermeidet das Federbein jeglichen Kontakt mit dem Gepäckträger.

Vorne ist eine Federgabel der Marke Kangaroo montiert (Federweg 45 Millimeter), die besonders aufs aufrechte Sitzen abgestimmt ist, bei Mitnahme von Gepäck per Low-Rider indes dem jeweiligen Gewicht angepasst werden muss. Utopia weist in sympathischer Offenheit darauf hin, dass ihr Vektor nicht unbedingt ein Roadrunner ist, sondern ein „kompromisslos auf Komfort ausgelegtes“ Reisevelo für die mittlere Distanz bis zu 100 Kilometern täglich. Besonders zu empfehlen, sagt der Hersteller, sei es für „ruhige Radtouren auf Wald- und Wirtschaftswegen“. Dazu passt, dass die so genannte Damenversion mit tiefem Durchstieg versehen ist.

Ein zweites neues Reiserad macht da schon einen anderen Eindruck. Von Rahmenmaterial (Aluminium), -geometrie und Ausstattung her passt es eher in die Kategorie „schneller Straßenfeger“. Doch die 24-Gang-Kettenschaltung und der stabile Gepäckträger weisen es als Reiserad aus – und als solches wird es von der VSF-Fahrradmanufaktur auch verkauft. Zudem ist das T 800 voll gefedert. Vorne wurde eine RST-Gabel verbaut, nichts Außergewöhnliches.

Die Überraschung hingegen ist die Abfederung des Hinterbaus. Sie steckt in einem runden Gehäuse, das recht unauffällig im Winkel von Sitz- und Oberrohr seinen Platz gefunden hat. Laut Hersteller handelt es sich dabei um ein „Gummitorsionsbauteil mit starker Federprogression, aber leichtem Ansprechverhalten“. Gedämpft wird demnach mittels Gummimasse, die dort zwischen zwei konzentrischen Stahlbuchsen einvulkanisiert ist. Auf die Federung wirken die Sitzstreben ein, die hier – anders als beim Vektor – zuständig sind fürs Auffangen der Stöße. Diese Federtechnik verwandelt die Stoßbewegung in eine Drehbewegung und nimmt ihr dadurch die Spitze.

Doch ebenso wie bei Utopias Modell beruht das Prinzip auf der Nichteinmischung des Gepäcks. Die VSF-Fahrradmanufaktur verspricht dies sogar bei maximaler Zuladung von 25 Kilo. Das Gummitorsionsteil ist also lediglich auf das Körpergewicht des Fahrers einzustellen – drei Stufen stehen zur Auswahl. Zusätzlich haben die gefederten Sitzstreben, die faktisch seitlich angebracht sind, eine stabilisierende Wirkung auf den Rahmen.

Es könnte sein, dass mit der neuen Federungstechnik für Reiseräder das ungefederte Fahren so langsam zu einer Angelegenheit von gestern wird. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass Federungen immer Kompromisse nach sich ziehen. Mal gehen sie auf die Schnelligkeit, mal bringen sie nicht den Komfort, den man vom häuslichen Sofa gewohnt ist. Vor allem dann nicht, wenn die ungefederte Masse, wie am Reiserad, zwangsläufig größer ist als am MTB, das lediglich seinen Fahrer zu tragen hat. HELMUT DACHALE