Tiefste Lenzdepression

Zehn Gründe, warum man den Frühling hassen muss  ■ von Burkhard Straßmann

Von den Imageberatern des Frühlings könnten sich Minusmarken wie CDU, Opel oder Bahn AG eine Scheibe abschneiden. Das Bild, das die Öffentlichkeit vom Frühling hat, ist erstklassig, sein Ruf tadellos. Nicht wenige brechen in Juchzen und Freudenschreie aus, wenn der Frühling kommt, ein Verhalten, das gemeinhin Teenagern eignet, die einem Schlagerstar zu nahe kommen. Auch gibt es Gedichte, die den Frühling preisen, gereimt von Dichtern, denen nichts besseres einfällt als eine Jahreszeit zu loben. Leider ist hier nicht die Rede von Entgleisungen einzelner. Sondern von einer Massenhysterie.

Wer dagegenhält, wer sich von den sogenannten Frühlingsdüften nicht einnebeln läßt, der gilt als Misanthrop, Gestörter, armes Würstchen. Doch was wahr ist, muss wahr bleiben: Der Frühling ist die schrecklichste aller Jahreszeiten! Hier nur zehn Gründe!

1. Grund: Betrachten wir zunächst das vielfach bejubelte, im Frühling vermehrt auftretende Sonnenlicht. Nur im Frühling nimmt die Sonne im Verhältnis zur Erde eine dermaßen perfide Position ein, dass die Sonnenstrahlen jeden Fensterschmutz gnadenlos hervorheben – Nasenfett, Fliegenschiss und Raucherteer. Folge: schlechtes Gewissen bei Personen, die für saubere Fenster verantwortlich sind, chemiegestützte Putzorgien, und wo man schon mal dabei ist: Komplettrenovierung oder gleich Umzug in einen Neubau. Alles wegen des schräg aufs Fensterglas aufprallenden Sonnenlichts.

2. Grund: Da reden sie von „Frühlingsdüften“! Ha! Wo im Winter alle Fäulnisprozesse unterbrochen, die Achseldrüsen ruhiggestellt waren, startet der Frühling mit einer umfassenden Blähung. Muffiges Laub beginnt zu dampfen, Hundekot zu zerfallen, es verwesen die Bioabfälle und was sonst in Gärten und Vorgärten gammelt. Und die Menschen? Winters schwitzten sie nicht, und wenn, ließ ihre panzergleiche Kleidung Körperdunst nicht durch. Nun beginnen sie wieder zu stinken. In der Straßenbahn. In der Kassen-Schlange.

3. Grund: Das wirklich Furchtbare ist ja nicht, dass die Menschen in der Schlange an der Karstadtkasse nach Unterarmschweiß stinken. Schlimmer noch ist, dass hinter ihnen Menschen stehen, die dem säuerlich-ätzenden Körperdunst nachgerade positiv gegenüberstehen. Ihn wie unter Zwang uminterpretieren. Ihn „anmachend“ nennen und „erotisierend“. Das bewirken verhängnisvolle endokrinologische Prozesse im Körperinneren. Atavistische, längst überwunden geglaubte und nur gelegentlich noch im Tierreich vorkommende Verhaltensweisen kann man dann bei Befallenen studieren. Ging es den Winter über um das Projekt der Aufklärung, interessiert die Leute im Frühling plötzlich nur noch eins: Paarung.

4. Grund: Die Blumen, hach! Was mussten wir verzichten die ganze harte Winterzeit lang. Unfug, verzichten musste niemand, Moosröschen aus Südafrika bekam man nachgeworfen, Tulpen gibt's immer, und nie blüht Abutilon schöner als im Dezember. Im Frühling dagegen lassen wir es zu, dass unser Auge vom billigen Gelb der Forsythie gefoltert wird, unsere Nase verklebt wird vom penetranten Mief des bogenförmig wachsenden Zimmerjasmins. Entsetzlich, was die Natur alles an Grünzeug im Köcher hat!

5. Grund: Stimmte auch nur ein Prozent des Guten, das über den Frühling erzählt wird, würden sich die Menschen in die erste Aprilsonne setzen, ein gutes Buch lesen, ein intelligentes Gespräch führen oder – bitte schön – den Wagen waschen. Stattdessen kaufen sie eine neue Garderobe. Lassen das Bein epilieren, den Kopf ondulieren. Streicheln Neuwagen. Studieren Fertighaus-Prospekte. Unterschreiben Schuldscheine. Gehen lebenslängliche Verpflichtungen ein. Ruinieren sich finanziell. Stürzen sich sehenden Auges ins Unglück.

6. Grund: Ursache für Nummer 5 oder ihre Wirkung? Kommt der Frühling, sind mit tödlicher Sicherheit die Briefkästen wieder randvoll mit diesen grässlichen dummbunten Postwurfsendungen, die auf eigene Kosten zu entsorgen sind.

7. Grund: „Alle Vögel sind schon da, alle Vögel, alle.“ Eben! Im Winter herrschte bis morgens neun Uhr Ruhe im Karton, dann kam schlimmstenfalls die Müllabfuhr. Im Frühling sind schon ab sechs, ab fünf Uhr alle Vögel da, alle. Singen sie? Sie kreischen, schreien, krakeelen. Werfen einen aus dem Bett ohne Rücksicht darauf, ob man abends ökologischen Apfelsaft oder Rotwein aus Zweiliterflaschen getrunken hat.

8. Grund: Städter wissen, wovon die Rede ist – im Winter wird er gnädig zugedeckt von einem Mantel aus Schnee. Im Frühling bleibt er liegen und wartet auf unsere Schuhsohlen: der Hundekot!

9. Grund: Jogginghosen. Weiße Socken. Birkenstocksandalen.

10. Grund: Im Frühling ist man glücklich. Wer im Frühling nicht glücklich ist, bei dem stimmt was nicht. Weil man aber im Frühling nicht glücklich sein kann, stimmt wohl was nicht mit einem. Man ist offenbar nicht glücksfähig. Das macht depressiv. Frühling macht depressiv!