Präzise gebaute Fenster zur Welt

In der Pariser Bibliothèque nationale präsentiert die Bildagentur Magnum einen melancholischen Blick auf das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts

von YVES ROSSET

Das Bild nahm René Burri 1997 im bolivianischen Dorf La Higuera auf. Es zeigt eine Frau vor dem Haus, in dem Che Guevara 1967 erschossen worden ist. Rechts drängen sich zwei junge Mädchen mit kleinen Kindern in den Armen mit aufs Bild. Im Hintergrund leuchtet ein knallblauer Himmel über die Andenlandschaft. Die Frau trägt eine militärgrüne Baseballmütze und hält vor ihrem Oberkörper ein schwarzweißes Plakat des wohl noch immer attraktivsten Revolutionärs des Jahrhunderts. Am unteren Rand des Posters ist eine Bildlegende zu lesen: „Che Guevara 1963/ Photo René Burri“. Damals war der Schweizer Fotograf dreißig und seit vier Jahren Mitglied der 1947 gegründeten Bildagentur Magnum.

Heute gehört Burri zur älteren Generation von Magnum, was ein wenig den leicht melancholischen Ton seines Bildes erklärt. So ist etwa der 1948 geborene Belgier John Vink erst seit 1997 Magnum-Mitglied. Seine schwarzweiße Aufnahme aus dem Jahr 1989 zeigt unter dem Titel „Revolution“ eine Gruppe von Menschen in Prag, die vor einem Fernsehapparat versammelt im Regen stehen. Das Gerät ist von hinten zu sehen, seine dunkle Silhouette besetzt ein Drittel der Bildfläche.

Zusammen reflektieren die Bilder von Burri und Vink zwei Hauptaspekte des Schicksals der letzten 30 Jahre Fotojournalismus. So konnte das einzelne Bild zur Trademark einer Idee (das Gesicht von Che Guevara als Pop-Ikone), wenn nicht einer Epoche (der Student vor den Regierungspanzern in Peking) werden – oder es ist am Rand der Datenautobahn stecken geblieben, auf der die von den neuen Medien erzeugte Bilderflut immer schneller stürmt. Wer erinnert sich eigentlich noch an irgendein preisgekröntes World Press Photo der letzten Jahre? Ist Dokumentarfotografie als Mittel der Realitätsvermittlung und der Geschichtsdarstellung überhaupt schon passé?

Eine Antwort findet sich in der Ausstellung „magnum° – Essais sur le monde“, die zur Zeit im Richelieu-Gebäudekomplex der Pariser Bibliothèque nationale de France zu sehen ist. Das im Titel als Hinweis auf die Temperatur unseres Planeten gedachte Gradzeichen steht auch für das seismografische Gespür der Agentur, die 460 Bilder aus ihrer Produktion der letzten zehn Jahre präsentiert.

Eingeleitet wurde das Ausstellungsprojekt auf der Generalversammlung der Kooperative 1995 anlässlich ihres 50-jährigen Jubiläums. Tatsächlich gehören zu Magnum 60 Fotografen, die sich Autoren nennen, und die Agentur beschäftigt mehr als 70 Mitarbeiter in ihren Redaktionen von New York, Paris, London und Tokio. Dass 19 der insgesamt 58 ausgestellten Fotografen seit 1989 in die Agentur aufgenommen worden sind, beweist die noch immer gültige Anziehungskraft. Sie beruht vor allem auf dem historischen Anspruch von Magnum als einer sich immer in Frage stellenden „Gruppe, die die Grundlage der Dokumentarfotografie erforscht“, wie es die Kuratoren der Ausstellung, Agnès Sire und François Hébel, formulieren.

Stilistische Erneuerung und wirtschaftliche Unabhängigkeit haben aber ihren Preis, weshalb Magnum sehr früh den Weg der Diversifizierung einschlagen musste – vom Foto für die Jahresbilanz von Unternehmen bis zur Werbung. Die Großaufträge machten es den Mitgliedern möglich, an eigenen, meist mehrjährigen Projekten arbeiten zu können. Obwohl der Verkauf von Bildern an die Presse – das heißt „alle wichtigen Zeitungen“, so Agnès Sire – immer noch die Haupteinahme darstellt, kann die Agentur heute auch vom boomenden Kulturmarkt profitieren. Es ist nicht erstaunlich, dass Ausstellungen, die mit Namen wie Bruce Davidson, Joseph Koudelka, Raymond Depardon, Susan Meiselas oder James Natchwey werben, inzwischen zur zweiten finanziellen Quelle für Magnum geworden sind und dass „magnum° – Essais sur le monde“ zeitgleich in London gezeigt wird. In den nächsten Monaten wird die Ausstellung noch in den USA, Japan und Europa zu sehen sein. Für Deutschland ist im Juli ein Aufenthalt im Berliner Postfuhramt geplant. All diese umfänglichen Unternehmungen spiegeln sich auch in dem begleitenden Katalog wider: „magnum°“ – das Buch ist 530 Seiten stark, mit mehr als 600 Bildern schick und aufwendig bestückt. Der Block könnte im Regal wunderbar zum documenta-X-Buch passen – eine Trophäe für Kunsttouristen.

Die Ausstellung führt ein spannendes Resümee des letzten Jahrzehnts vor Augen, das erstaunlicherweise zugleich schon entfernt und doch sehr nah, jedenfalls immer bedrohend wirkt. Präsentiert werden die Bilder in drei weit greifenden thematischen Bereichen, die mit den Titeln „Beständigkeit der Rituale“, „Chronik des Chaos“ und „Ästhetik des Alltags“ dem Ganzen eine essayistische Form geben sollen. Jeder Bereich wird dafür mit einem kurzen, an die Wand gemalten Kommentar eingeführt. Man könnte das „Diskurs light“ nennen, vergisst es aber schnell, weil die Bilder sowieso unmittelbar für sich sprechen. Interessanter und wichtiger sind dafür die von den Fotografen selbst verfassten kurzen Texte, die die meist in kleinen Gruppen aufgehängten Bilder begleiten und dem Besucher wertvolle Information über den Kontext oder die Geschichte der Aufnahmen vermitteln.

Der Parcours funktioniert wie eine Reihenfolge knapper und dichter Fotoreportagen. Jedes einzelne Bild öffnet ein sehr präzis gebautes Fenster auf eine Welt, die dauernd zwischen Grausamkeit und Schönheit, Exotismus und Straßenecke, Trauer und Hoffnung wechselt, deren Erkundung aber sehr schnell die Aufnahmefähigkeit erschöpft. Für den Betrachter scheint sich am Anfang noch der Inhalt der Fotografien mit einer fassbaren Geschichte zu verknüpfen. Doch schon bald springt diese Form der Erzählung ins beliebige Auflisten von Stichwörtern (Krieg, Umweltzerstörung, Aids, Revolution, Kitsch, Armut usw.) um.

„Das Ziel der Fotografie ist nicht mehr politisch oder moralisch. Die Finalität der Fotografie ist die Fotografie“, schreibt der Historiker und Schriftsteller Michael Ignatieff im Vorwort zu „magnum°“. Ist die Dokumentarfotografie also nur noch eine Abteilung zeitgenössischer Kunst mehr? Oder gar eine antiquierte Form für National-Geographic-Nostalgiker? Hinter der provokativen Einfachheit der These von Ignatieff steckt etwas Wahres: Harry Gruyaerts Bild eines „lavatoryroom“ könnte von Nan Goldin sein, Hiroji Kubotas bunte Aufnahme einer riesigen Schwimmbadanlage mit Bühne und Palmen in Kuala Lumpur hätten wohl auch Fischli & Weiss aufnehmen können. Auch die Bilder von Martin Parr, Gueorgui Pinkhassov oder Lise Sarfati erinnern an fotografischen Arbeiten, die seit einigen Jahren immer mehr Platz in Kunstausstellungen einnehmen.

Dass aber anspruchsvolle und realitätsnahe Dokumentarfotografie immer schon eine Kunst gewesen ist und es auch bleiben wird, bestreiten nur penible Spezialisten. Dem Liebhaber sind die starren Grenzen der Genres ohnehin egal, und dem Laien erschließt sich die Wirkungskraft der Dokumentarfotografie aus dem unmittelbar im Bild festgehaltenen Augenblick. Außerdem ist Magnum von Anfang an genau in diesem Zwischenraum angesiedelt gewesen: Robert Capa, David Seymour und George Rodger kamen aus der Reportagefotografie, während Henri Cartier-Bresson der Ausbildung nach Maler war und stark vom Surrealismus beinflusst wurde.

Die Tendenz der Magnum-Fotografen, „die Peripherie zu besetzen, sich nicht in den Zentren der Macht aufzuhalten und sich nicht von konventionellen Interessenslagen einschränken zu lassen“, wie es das italienische Magnum-Mitglied Ferdinando Scianna einst formulierte, ist in „magnum° – Essais sur le monde“ klar zu spüren. Ein Beispiel dafür liefert das von Peter Marlow aufgenommene Bild der Beerdigung von Prinzessin Diana aus dem Jahr 1997. Im ersten Augenblick scheint die auf dem großformatigen schwarzweißen Bild gezeigte Autobahnlandschaft menschenleer zu sein. Dann erblickt man einen Leichenwagen, der von vier Motorradpolizisten begleitet wird und dem drei weitere Motoradpolizisten den Weg frei machen. Dabei ist die Straße doch bereits leer, nur auf der Brücke, unter der der Trauerzug hindurchfährt, stehen vier Bobbies und ein einsamer Zuschauer am Zaun. Die ganze Szene ist karg und zugleich doch vom historischen Moment aufgeladen. Kein Paparazzi würde es wohl wagen, ein solches Bild an irgendeine Redaktion zu schicken.

„magnum° – Essais sur le monde“ beweist die reiche Vielfältigkeit und die starke Vitalität der Bildagentur und bietet dem Besucher zum Teil sehr appetitliche gastronomische Rastmöglichkeiten in einer, wie Ignatieff schreibt, zum „visuellen Fast Food“ mutierenden Welt. Dafür weht aber der leise Hauch einer doch überholten Epoche über die Bilder. Auf dem Weg zur Ausstellung kommt der Besucher am Salle Labrousse vorbei. Seit dem Umzug der Print-Abteilung an den neuen Standort „François Mitterrand“ steht der Saal leer, ein museales Gespenst. An den 360 Leseplätzen brennen immer noch die Tischlampen mit ihrem blauen Schutzglas, obwohl kein Leser weit und breit zu sehen ist und kein einziges Buch mehr auf den hohen Regalen liegt. Trotzdem ist irgendwo im Gebäude die Sammlung von Drucken, Zeichnungen, Plakaten, Postkarten und Fotografien gelagert. Sie zählt heute mehr als 15.000.000 Stück. Am Ende der Ausstellung werden 460 dazukommen, als Geschenk von Magnum an die Bibliothèque nationale.

Bis 7. 5., Bibliothèque nationale de France, Site Richelieu, Paris. Der umfangreiche Katalog zur Ausstellung kostet etwa 130 Mark.