Stehende Ovationen für Jürgen Tritt-i(h)n

Der grüne Umweltminister bedient auf dem Bundesparteitag das Bedürfnis nach einem Erfolgserlebnis und verhindert so einen Streit um seine Atomausstiegspolitik. Ergebnis: AKWs dürfen maximal 30 Jahren in Betrieb bleiben, und die Gespräche mit der Wirtschaft können weitergehen

KARLSRUHE taz ■ Die Delegierten des grünen Parteitags springen von ihren Stühlen auf und spenden ihrem Umweltminister stehende Ovationen. Noch-Parteichefin Gunda Röstel und Kollegin Antje Radcke fallen Jürgen Trittin um den Hals. Tosender Applaus. Was ist passiert? Noch vor zwei Tagen war überall zu lesen, die Grünen würden sich über die Atompolitik grässlich streiten. Und jetzt unterstützen sie fast geschlossen die Linie ihres Umweltministers, nach der die AKWs insgesamt dreißig Jahre lang laufen dürfen.

Nur wenige Atomkraftgegner stehen mit saurer Mine am Rande des Saales. „War ja klar, dass sie für die Regierung stimmen“, sagt eine weißgeschminkte und verkleidete Frau, die vor der Halle für den Sofortausstieg demonstriert hatte. Auch Angelika Zahrnt, die Vorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) ist enttäuscht: „Stehende Ovationen für dreißig Jahre Laufzeit, das stößt mir bitter auf.“

Vor der Entscheidung für den Leitantrag des Vorstandes diskutierten die Grünen sieben Stunden lang. Die Stimmung kippte erst mit Jürgen Trittins Rede eindeutig zugunsten des Antrags der Parteispitze. Die Rede war „unerwartet gut“, attestierte sogar sein Kontrahent, Christian Ströbele vom linken Flügel.

Die Deligierten hörten ihrem Umweltminister gespannt zu. Betont lässig stand Jürgen Trittin am Rednerpult und erinnerte daran, „wie wir zu zehntausenden nach Grohnde an den Bauzaun zogen“. Die Gründung der grünen Partei sei „eine Kampfansage an die Pro-Atompartei SPD“ gewesen. „Und mit eben dieser Partei versuchen wir heute aus der Atomtechnik wieder auszusteigen.“ Deshalb sei es „keine Nachgiebigkeit“, wenn sich die grüne Führungsspitze mit der SPD auf 30 Jahre Laufzeit geeinigt habe, sondern „ein Kompromiss“. Die SPD habe ursprünglich 40 Jahre gewollt.

Vom Parteitag erwarte er jetzt ein „Signal“ an die Atomindustrie: „Schluss mit den Verzögerungen bei den Konsensgesprächen!“ Wenn die Verhandlungen nicht bald zu einem guten Ende kämen, werde „diese Regierung ein Ausstiegsgesetz im Dissenz mit der Industrie“ vorlegen. „Erfüllen wir unseren Gründungsauftrag!“, rief er den Delegierten zu. Tosender Applaus.

Als Wolfgang Eisenberg von der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg sprach, wurde die Distanz der Delegierten zu den Antiatomaktivisten spürbar. Schweigen schlug ihm entgegen als er rief: „Die Leute im Wendland sind über die rot-grüne Politik entsetzt“. Bei den nächsten Castortransporten würden die „Polizeiknüppel wohl von rot-grünen Politikern eingesetzt“. Die Grünen müssten „bereit sein, den Bruch der Koalition in Kauf zu nehmen“. Der Nebenerwerbsbauer erntete wenig Beifall und einige Buhrufe.

Die Befürworter eines Sofortausstiegs merkten, sie hatten keine Chance mehr. Unerwartet ließen sie ihre Anträge fallen und riefen dazu auf, den Antrag des Landesverbandes Niedersachsen zu unterstützen. Der hält den rot-grünen Kompromiss 30-Jahre plus drei Jahre Übergangszeit für „nicht akzeptabel“. Die Niedersachsen forderten ein Ausstiegsgesetz mit Übergangsfristen von zwei Jahren und das „Abschalten von mehr als zwei Atomkraftwerken in dieser Legislaturperiode“. Konkrete Laufzeiten wurden nicht genannt. Bei der ersten Abstimmungsrunde stimmte fast die Hälfte der Delegierten für den Niedersachsen-Vorschlag. Der Bundesvorstand reagierte mit einem geschickten Schachzug: Er nahm zahlreiche Forderungen des Gegenantrags auf: Ein Ausstiegsgesetz müsse „unverzüglich parallel zu den Konsensgesprächen“ vorbereitet und die Wiederaufarbeitung schnellstmöglich verboten“ werden. Und: Solange es kein Ausstiegsgesetz gebe, würden die Grünen „gegen Castortransporte mobilisieren“.

Damit war der letzte Widerstand gebrochen. Nach der stundenlangen Debatte lechzten die Delegierten nach einem Erfolgserlebnis. Und so konnte das Parteitagspräsidium kurz darauf „die überwältigende Mehrheit für den Vorstandsantrag“ verkünden. TINA STADLMAYER