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: WLADIMIR KAMINER über Einbürgerung

WARUM ICH NOCH KEINEN ANTRAG GESTELLT HABE

Jede Nacht entstehen bei uns an der Schönhauser Allee Ecke Bornholmer Straße neue immer größere Gruben. Sie werden von Vietnamesen aufgeworfen, die diese Ecke zu einer Geschäftsstelle für den Zigarettenverkauf ausgewählt haben. So vermute ich zumindest, weil ich sie dort wiederholt im Morgengrauen mit Schaufeln in der Hand sah. Zwei Männer und eine sehr nette Frau, die seit Jahren eine geschäftsführende Rolle an dieser Ecke spielt. Warum graben die Vietnamesen? Beschaffen sie sich neue Lagerräume für ihre Ware?, überlegte ich auf dem Weg zum – zum Herrn Kugler.

Es ging wieder darum, die deutsche Einbürgerung zu beantragen, schon zum dritten Mal. Ärgerlich. Das erste Mal lief alles wie am Schnürchen – ich hatte alle Fotokopien mit, meine wirtschaftliche Verhältnisse waren geklärt, alle meine Aufenthaltszeiten und -orte seit der Geburt aufgezählt, die 500 Mark Gebühren akzeptiert und sämtliche Kinder, Frauen und Eltern aufgelistet.

Zwei Stunden lang unterhielt ich mich mit Herrn Kugler über der Sinn des Lebens in der BRD, doch dann scheiterte ich an der einfachen Aufgabe, einen handgeschriebenen Lebenslauf anzufertigen. Er sollte unkonventionell, knapp und ehrlich sein. Ich nahm einen Stapel Papier,einen Kugelschreiber und ging auf den Flur. Nach ungefähr einer Stunde hatte ich fünf Seiten voll geschrieben, war aber immer noch im Kindergarten. „Es ist doch nicht so einfach mit dem handgeschriebenen Lebenslauf“, sagte ich mir und fing von vorne an. Am Ende hatte ich drei Entwürfe, die alle interessant zu lesen waren, aber im besten Falle bis zu meiner ersten Ehe reichten. Unzufrieden mit mir selbst ging ich nach Hause. Dort versuchte ich, mir den Unterschied zwischen einem Roman und einem handgeschriebenen, unkonventionellen Lebenslauf klarzumachen.

Beim nächsten Mal scheiterte ich an einem anderen Problem. Ich sollte in einem mittelgroßen Quadrat Gründe für meine „Einreise nach Deutschland“ angeben. Ich spannte meine Hirnmuskeln an. Mir fiel aber kein einziger Grund ein. Ich bin 1990 absolut grundlos nach Deutschland eingereist. Abends fragte ich meine Frau, die für alles auf der Welt einen Grund bereit hält: Warum sind wir damals überhaupt nach Deutschland gefahren? Sie meinte, wir sind damals aus Spaß gefahren – um zu kucken, wie es ist. Aber mit solchen Formulierungen kommen wir nicht weiter. Der Beamte wird denken, dass wir die Einbürgerung auch nur aus Spaß beantragen und nicht aus ... Wozu beantragen wir eigentlich die Einbürgerung?, wollte ich noch meine Frau fragen, aber sie war schon zur Fahrschule gegangen – um alten Omas am Pistoriusplatz Angst einzujagen und reihenweise Fahrschullehrer verrückt zu machen. Meine Frau hat eine sehr unkonventionelle Fahrweise. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich gab dann vorsichtig „Neugierde“ als Grund für unsere Einreise an, das schien mir vernünftiger als „Spaß“. Dann schrieb ich meinen Lebenslauf vom Computer-Bildschirm mit der Hand ab. Alles zusammen tat ich in eine Mappe und ging am nächsten Tag wieder zu Herrn Kugler. Es war noch sehr früh und dunkel, aber ich wollte unbedingt der Erste sein, weil der Beamte im Standesamt mehr als einen Ausländer am Tag nicht schafft.

Da sah ich die Vietnamesen: Sie gruben,schon wieder! Ich trat näher. Zwei Männer standen mitten in einem großen Loch – mit frustrierten Gesichtern, die Frau stand daneben und beschimpfte die beiden auf Vietnamesisch. Die Männer verteidigten sich träge. Ich kuckte in die Grube – es war nur Wasser drin. Auf einmal wurde mir klar, was hier passierte: Die Vietnamesen hatten vergessen, wo sie ihre Zigaretten vergraben hatten, und suchten sie jetzt überall – vergeblich. Plötzlich kam Wind auf. Meine Papiere fielen aus der Mappe und landeten in der Grube. Der sorgfältig handgeschriebene Lebenslauf, all die Gründe für meine Einreise, der große Fragebogen mit meinen wirtschaftlichen Verhältnissen – alles flog in diese nasse Grube. Ich werde wohl nie die Einbürgerung bekommen. Aber wozu auch?