Fortschreitende Erschütterung

Die Galerie imago fotokunst zeigt das „Bronx Family Album“ des New Yorker Fotografen Steve Hart

So ein Leben ist zum Heulen: Nach einem Streit mit ihrem Mann bricht Sensa in Tränen aus. Ein Jahr später stirbt sie an den Folgen von Aids. Vor zehn Jahren begann der New Yorker Fotograf Steve Hart den Alltag einer in der Bronx lebenden puertoricanischen Familie mit der Kamera zu begleiten. Hart dokumentiert in seinem „Bronx Family Album“ das Leben von Sensa und Ralph Cartagena, beide HIV-positiv, die mit ihren vier Kindern von Sozialhilfe leben. Rosa, Cristina, Jessica und Sensita sind nicht infiziert.

Die Bilder aus den Jahren 1991/92, die in der Galerie „imago fotokunst“ zu sehen sind, zeigen die Armut und die Verzweiflung, die Auswirkungen von Drogen und Krankheit, Liebe und Tod. Steve Hart arbeitete ähnlich wie Nan Goldin: Er war einfach immer nur dabei und wurde zum Freund der Familie. So zeigen die schwarzweißen Prints die ständige emotionale Erschütterung der Familienmitglieder und dokumentieren die Wendepunkte: Ralph und Sensa trennten sich 1991, sie wurde wieder drogenabhängig und landete auf dem Strich; Ralph starb im Oktober 1998.

„In New York City sind aufgrund von Aids derzeit rund 50.000 Kinder und Jugendliche ohne Mütter“, berichtete Steve Hart, Jahrgang 1962, auf der Vernissage. In der Zeit, in der der Fotograf die Familie begleitete, überwogen zwar die tragischen Umstände, doch es gab auch Momente der Zärtlichkeit, des Glücks: Da posiert der stolze Papa mit nacktem Oberkörper vor der Kamera und trägt auf seinem noch starken Arm die kleine Tochter. Da tanzt die 7-jährige Sensita verträumt vor dem Fernsehgerät und sieht wie eine anmutige Flamencotänzerin aus.

„Die letzte Familienversammlung“ heißt ein Foto aus dem Mai 1991, wenig später zog Sensa aus. Auf einem großen Bett haben sich alle versammelt. Ralph und ein Kind dösen, die Mutter steht rauchend daneben, die anderen Töchter sitzen am Bettrand. Sie schauen wie auf den meisten Fotos weg oder zeigen ihr Profil, nur nicht in die Kamera blicken – als ob sie sich und ihrer Ärmlichkeit schämen würden. Denn außer ihren Betten und dem stets laufenden TV-Gerät sind kaum Möbel zu sehen.

Überhaupt wird wenig gelacht. Meist bleiben die Gesichter ausdruckslos, die Blicke voller Trauer und Sehnsucht: Sensa etwa hält sich beide Augen zu. Bald darauf liegt sie sterbenskrank im Bett, Ralph streichelt ihren Arm. Zwei Wochen später sehen wir sie aufgebahrt, mit weißer Strickjacke und dem Rosenkranz in ihren Händen. ANDREAS HERGETH

Bis 8. April, Di.–Fr. 12–19 Uhr; Sa. 14–18 Uhr, Galerie imago fotokunst, Sophienstraße 32, Mitte