Costanzos Schweiiine

Im September 1969 war ganz schön was los am Garibaldi-Gymnasium. „Vorbeigeliebt“:Franceso Piccolos unsentimentaler Rückblick auf die Studentenbewegung in Italien

von FRAUKE MEYER-GOSAU

„Heute nehme ich einen mit, und dann entspannt sich die Lage.“ Mit diesem Satz ist der Polizeichef aufgewacht, aber wohl ist ihm nicht bei dem Gedanken. Jeden Morgen fasst er diesen Vorsatz, jeden Tag gibt er ihn an seine Beamten weiter: „Also heute müssen wir jemanden mitnehmen.“ Die Polizisten wissen schon, wie das ausgehen wird: Gar nichts wird passieren. Das wiederum beruhigt den Polizeichef sehr. Denn würde eine Verhaftung nicht eine Menge unangenehmer Folgen nach sich ziehen? Eben.

An diesem besonderen Tag im September 1969 aber gibt es kein Entweichen. Es sind die Zeiten der Schüler- und Studentenbewegung in Italien, auch am Garibaldi-Gymnasium der Kleinstadt agiert ein „Kollektiv“, dessen Sprachrohr Franco mit pfeifendem Megafon allmorgendlich die Mitschüler agitiert – Schülerkampf as usual. Aber dann wird auf der Straße ein „Kollektiv“-Mitglied zusammengeschlagen – „die Faschisten“ waren's –, und da fasst der ehemalige Schüler Di Costanzo einen revolutionären Vorsatz: Er will das Direktorat besetzen.

Zwar sind die meisten Schüler der Oberstufe, sobald die Angelegenheit sich zuspitzte, bereits auf ein zweites Frühstück in die nahe gelegene Bar enteilt. Doch Di Costanzo fühlt die Massen hinter sich. Und so stürmt er mit dem Ausruf „Schweiiine!“ die Stufen zum Direktorzimmer hinauf – ganz allein. Von oben beäugen ihn der Polizeichef, die Polizisten und der „dicke, schneeweiße Direktor“. Von unten schauen ihm die verbliebenen Unterstufenschüler und „Kollektiv“-Mitglieder hinterher. Und als Di Costanzo oben angekommen ist, fällt er dem Polizeichef direkt in die Arme, und da muss der es also doch sagen und auch tun: „Diesen hier nehmen wir jetzt mit.“

Francesco Piccolo ist ein wunderbarer Erzähler – schnell, elegant, genau und gewitzt. Selbst deutlich zu jung, um etwa als Aktivist der „Bewegung“ in Frage zu kommen – er wurde 1964 in Caserta geboren –, weiß er offenbar doch ganz genau, was in den heißen revolutionären Zeiten vor sich gegangen ist. Vor allem aber weiß er, wie es sich anfühlte. Und wie erzählt man das? Francesco Piccolo hat sich einen pubertierenden Knaben erfunden. Der sieht die Großen und ihre Aktionen mit Kinderaugen, ganz aus der Nähe also und mit einer natürlichen Fremdheit zugleich. Dieser Junge ist einer, der auch schon gern zum „Kollektiv“ gehören würde. Er ist aber vor allem einer, der für sein Leben gern mit anderen bekannt wäre: Dieser Ich-Erzähler hat den Grüßzwang. „Ciao!“, „Ciao!“, „Ciao!“, ruft es aus ihm heraus, allenthalben grüßt und winkt und nickt er anderen zu – ein Grund dafür, dass er für jeden Weg länger braucht als andere, im konkreten wie im übertragenen Sinne.

Und so fängt die ganze Sache an: Eine Jungenhand fährt die Beine von Cristina hinauf. Ihr Ziel: unter den Rock zu gelangen und diese Beine zu spreizen. Aber das stellt sich als Schwerarbeit heraus. Der Protagonist schwört, er schimpft, er stammelt blödsinnige Liebesbeteuerungen. Und nachdem er für eine Sekunde schon geglaubt hat, seine Hand käme endlich doch voran, mobilisiert das Mädchen „die letzten Kräfte, so dass ihre Kniegelenke aneinander prallten mit einem Knall, der sich mit einem erschütternden Echo ausbreitete . . .“ – der Junge trägt ein akustisches Trauma davon. Diese Slapsticknummer gibt den Ton fürs Ganze vor, und politically ist das alles ziemlich incorrect. Die Frauen kommen nicht gut weg, weil sie zickig sind oder den Armen nach allen Regeln der Kunst mit falschen Versprechungen austricksen, wie Claudia, seine eigentliche Angebetete.

Die „Bewegung“ in ihrem revolutionären Wirken aber steht aus seiner Perspektive alsbald als ein Unglückswesen da, das enorm lärmt und mit den Armen rudert und von allem, was es anstrebt, immer ziemlich genau das Gegenteil bewirkt. Denn nicht nur wird der todesmutige Revolutionär Di Costanzo binnen zweier Tage Untersuchungshaft, allein gelassen mit nichts als der Bibel, fromm. In der politischen Schlüsselszene des Buchs, in der ein Volksaufstand mit mehrtägigem Straßenkampf die Kleinstadtmenschen in Atem hält, stehen schließlich alle Erwartungen vollends Kopf.

So geschickt fädelt Piccolo das ein, dass man erst denkt: Siehste woll, die Italiener und ihre Roten Brigaden! Stürzen sich auf die Straßen, erkämpfen ihr Menschenrecht auf Akteneinsicht und werfen pfundweise amtliche Papiere aus Fenstern – bravissimo! Doch dann ist alles erst ein bisschen und endlich sogar ganz anders. Mitsamt Großfamilie hinter verschlossenen Fensterläden gehalten, registriert der jugendliche Held, wie die Kombattanten abends pünktlich kurz vor acht alles stehen und liegen lassen und nach Hause streben. Er ist irritiert – und begreift: Die müssen sehen, ob sie im „Telegiornale“ groß rauskommen! Und dann zeigt sich allmählich auch, dass von politisch motivierter Volksaktion hier wohl, äh, eher überhaupt nicht die Rede sein kann. Das Ganze hat mit Fußball zu tun, so viel darf man sagen. Denn wie Piccolo einen erst auf die falsche Spur setzt und dann aufdeckt, worum es eigentlich geht, das ist so meisterlich gemacht, dass es leider auf keinen Fall verraten werden darf.

Natürlich wäre der Roman nicht viel mehr als ein toller Ulk, wenn es neben seiner Komik nicht noch ein zweites Element gäbe, das ihn voranbringt: die Zuneigung zu den Figuren. Alle, die dem Jungen innerlich nahe sind: der Vater, der Großvater, der Rebell Dario, aber auch die Lehrerin di Riso, sie alle werden mit Sympathie und Einfühlung betrachtet und stehen in den kuriosen Ereignissen, in die sie verstrickt sind, niemals ohne diesen Rückhalt da.

Dass der Protagonist Sportler ist – Basketballer, genauer gesagt –, hat zu guter Letzt vor allem Auswirkungen auf die Erzählform. Geradezu sportlich nämlich seine Objekte umdribbelnd und seine Leser irreführend, durchquert Piccolo Gegenwart und Vergangenheit, hin und her, vor und zurück. Und während das eine gerade geschieht – der Angriff auf den gegnerischen Korb –, geht dem Jungen zugleich immer ganz anderes durch den Kopf, das Ende seiner Beziehung zu Claudia etwa, von der er nicht weiß, ob sie überhaupt existiert hat. So bleibt alles unsentimental und wird doch nie zynisch.

Franceso Piccolo: „Vorbeigeliebt“. Aus dem Italienischen von Anja Dasch. Alexander Fest Verlag, Berlin 2000, 178 Seiten, 34 DM