„Punkt, Ende, aus“

Mit dem Shoah-Foundation-Film „Die letzten Tage“ geriet der unreflektierte Umgang mit Zeitzeugenschaft ins Zwielicht. Ist der Holocaust zur neuen Zivilreligion geworden? Ein Gespräch mit Volkhard Knigge, dem Leiter der Gedenkstätte Buchenwald

taz: Herr Knigge, seit Anfang des Monats läuft nun auch in Deutschland James Molls Doku-Fiktion „Die letzten Tage“ im Kino. Ein Film, zusammengebaut aus Zeitzeugengeschichten – einmal mehr, möchte man sagen. Von Guido Knopp im ZDF bis zur Shoah Foundation in den Staaten hat sich da in den vergangenen fünf Jahren etwas zu einer Maschinerie ausgeweitet, was in den Geschichtswerkstätten Anfang der Achtziger mal ganz anders losging: Nämlich als lokale Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Wie erklären Sie sich das Phänomen?

Volkhard Knigge: Es gibt heute tatsächlich so etwas wie eine Manie der Zeitzeugenschaft – das sage ich jetzt in Bezug auf das Phänomen, nicht in Bezug auf einzelne Zeitzeugen. Es hat sich unter Geschichtsvermittlern aller Art, also auch unter Geschichtspopularisierern, inzwischen herumgesprochen, dass nichts so berühren kann wie ein Zeitzeuge, dem die Betroffenheit an der Geschichte ins Gesicht geschrieben steht.

Mit welchen Kriterien gehen Sie an Zeitzeugen heran?

Man sollte vier verschiedene Ebenen des Mediums Zeitzeugenschaft unterscheiden. Da gibt es einmal eine Zeitzeugenschaft wie vor Gericht: Das und das ist passiert, ich habe es wahrgenommen, ich war dabei. Das ist die beinharte Form der Zeugenschaft, die man in Deutschland lange nicht nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Denn sie kam von den Überlebenden in den großen NS-Verbrecher-Prozessen.

Dann gibt es den Aspekt, dass einer seine Erfahrung berichtet, um ihr im Nachhinein noch einmal Würdigung zuteil werden zu lassen. Der Zeitzeuge erfährt durch den, der zuhört, Achtung. Zum Dritten gibt es den funktionalen Verbrauch von Zeitzeugen – vor allem seitdem Geschichte sich filmisch darstellen muss. Denn wenn man filmisch darstellt, muss man auf Archivbilder ausweichen, und diese gibt es oft nur aus der Perspektive der Täter. Zeitzeugen verdichten dieses distanzierte Material und bringen die Opferperspektive noch einmal herein. Eben dies aber führt nicht selten zu ihrer medialen und pädagogischen Verwurstung.

Das passiert häufig dann, wenn man sagt: Ich komme als Lehrer nicht mehr rüber oder ich komme als Gedenkstätten-Pädagoge nicht mehr ran an die Schüler. Dann ist der Zeitzeuge oft die Ultima Ratio: Jetzt brauchen wir den alten Herren oder die alte Dame am besten mit Tränen in den Augen.

Welche Rolle spielt da die Shoah Foundation?

Die Foundation lässt Zeitzeugenschaft als Königsweg der Erinnerungsarbeit erscheinen. Aber der Historiker kann sich damit nicht begnügen. Jede Form der lebendigen Erinnerung ist auch Konstruktion. Das ist ganz einfach so. Das Gedächtnis ist kein Speichermedium, sondern ein Konstrukteur in einer Ambivalenz von Sichmerken, von Vergessen, von Akzentuieren, von Selektiv-Wahrnehmen, von Umfärben. Alle Überlebenden hatten – Gott sei Dank – ein Überleben nach dem Überleben. Sie haben nicht ihr ganzes Leben als Opfer verbracht. Sie hatten ihr Leben mit ihren ganz bestimmten kulturellen Erfahrungen, Prägungen, politischen Orientierungen. Und die fließen natürlich auch retrospektiv in die Deutungen dessen ein, was der Nationalsozialismus ist und was das eigene Ideal ist, das man an die nächste Generation weitergeben will. Ein Sozialdemokrat deutet den Nationalsozialismus anders als ein Kommunist, das ist eine klassische Buchenwald-Erfahrung. Ich sag das nur noch mal gegen den mythisierenden Begriff „Die Zeitzeugen“ und ihre Stimme und ihre Botschaft und das, was sie uns sagen wollen.

Gibt es bei der Shoah Foundation diese Mythisierung?

Ich möchte da vorsichtig sein; die Shoah Foundation gewährt wenig Einblick in ihr innerstes Leben. Auch will ich nicht unterschätzen, dass hier Zeitzeugen zum ersten Mal erleben durften, dass ihnen jemand ernsthaft zuhört. Die wissenschaftliche Aufbereitung des Materials aber kommt offenbar zu kurz. Es ist ein sehr deutliches Signal, dass Michael Berenbaum, der sich um das Washington Holocaust Museum als wissenschaftlicher Direktor außerordentlich verdient gemacht hat und bei der Shoah Foundation für die wissenschaftliche Aufbereitung der Interviews bestellt war, nicht mehr in der Shoah Foundation arbeitet.

Wissen Sie, warum nicht?

Darüber herrscht großes Stillschweigen.

Wird das Zeitzeugen-Material der Shoah Foundation zu Geld gemacht?

Zum einen ist bisher nur ein sehr kleiner Teil des Materials überhaupt erschlossen. Es sind mittlerweile mehrere tausend Interviews. Allein ein Ortsregister dafür zu machen, ein simples Register der KZs oder Ghettos ist eine unglaubliche Arbeit. Und alles, was seriös, zeitaufwendig mit Liebe zum Detail gemacht werden muss, ist kostenintensiv. Für den schnellen Verbrauch von Fetzen aus Zeitzeugen-Interviews – etwa in Filmen – brauchen Sie diesen ganzen Aufwand natürlich nicht. Und es scheint so, als ob ein großer Teil des von Spielberg gesammelten Materials in dieser Schnellschussweise verkauft wird.

Eine Frage an den Psychoanalytiker Volkhard Knigge: Was passiert mit den Menschen, wenn ihnen auf diese massive und paradoxe Weise „Achtung“ entgegengebracht wird?

Also ich denke, dass viele Überlebende das zunächst durchaus als Würdigung wahrnehmen.Das Problem ist, dass sich gerade in Amerika um den Holocaust zurzeit so etwas wie eine Zivilreligion herausbildet. In Stockholm war das übrigens auch so: Auf der großen Konferenz für „Holocaust Education, Documentation and Resurch“ hatte man den Eindruck, hier der Entstehung einer Zivilreligion beizuwohnen, in deren Mittelpunkt das radikal Böse, der Holocaust, steht. Es gab relativ wenig an rationalem Diskurs, stattdessen die Forderung nach Empathie, nach Die-Botschaft-Weitertragen. Unter Zivilreligion versteht man ja auch, dass ihr Kern rationaler Kritik verschlossen ist. Wer nachfragte – „Wie geht ihr denn mit euren Interviews um, nach welchen Kriterien bereitet ihr sie auf?“ –, der konnte relativ schnell als Schänder eines Gedächtnisses dastehen. Doch der Historiker, der kritisch nachfragt, will ja nicht die Opfer in ihrer Erinnerungskraft delegitimieren. Sondern er will dazu beitragen, dass Aussagen über Geschichte so fundiert sind, dass sie auf längere Sicht Geltung beanspruchen können.

Und das können die von der Shoah Foundation gesammelten Aussagen nicht?

Die Shoah Foundation sammelt Zeitzeugen-Erinnerung im Grunde genommen wie reine Tatsachenberichte. Nach ganz anderen Kriterien ist das Archiv von Geoffrey Hartman in Yale aufgebaut, der sehr stark in der Würdigungsperspektive Zeitzeugen befragt. Und zwar in dem zutiefst jüdischen Sinne, dass das Wort, die Sprache, den Menschen konstituiert. Hartman hört den Überlebenden in einer Weise zu, die ihr Sprechen zu einer Art säkularer Liturgie werden lässt. Zu einer Art liturgischer Literatur. Ich sehe Geoffrey Hartman deshalb immer als Hüter eines Ortes, in dem eine Art heiliges Sprechen aufbewahrt ist. Während bei Spielberg einfach alles durcheinander geht. Spielberg ist letztlich ein großes Warenhaus, und man wird befürchten müssen, dass seine Unmenge an Material – einfach weil es nach nicht nachvollziehbaren Verfahren entstanden ist – in zehn oder zwanzig Jahren schon für nichts mehr nutze ist.

Ihre glasklare Trennung zwischen dem Historiker und der Literatur scheint mir hier in der Gedenkstätte Buchenwald kaum durchführbar. Eine Gedenkstätte ist zugleich Ort der Forschung und Ort des Eingedenkens im Sinne Geoffrey Hartmans. Es leuchtet mir nicht ein, warum eine strenge, fast kantianische Unterscheidung hier nötig sein muss. Gibt es keine Schnittpunkte?

Die gibt es erst, wenn man als Historiker, der Geschichtsbilder zu verantworten hat, die Unterschiede klargemacht hat. Sonst wird man sofort zum Hohenpriester der Geschichte. Natürlich sind Gedenkstätten ein Zwischentypus. Sie sind Tat- und Leidensorte, Friedhöfe und zugleich Museen.

Wir haben hier in Buchenwald aber sehr deutlich versucht, den Besuchern immer klarzumachen, wo sie gerade stehen. Unsere historischen Ausstellungen dürfen meines Erachtens die Elemente von historischer und literarischer Wahrheit niemals vermischen. Sonst setzt man sich der kompletten Beliebigkeit aus und arbeitet, zugespitzt, jedem Auschwitz-Leugner in die Hände. Die Dinge müssen nachprüfbar sein. Da kann man als Historiker nur sagen: Punkt, Ende, aus.

Mit dem Philosophen Jean François Lyotard könnte man dem entgegnen: Geschichtsleugnern, Leugnern der KZ-Wirklichkeit, kann man durch keine Letztbegründung entgegentreten.

Ich würde da widersprechen: Es gibt am Ende die Polizei. Manchmal fassen die Philosophen die Probleme zu erdentbunden polar. Mich interessiert der 18-Jährige, der mich fragt: Woran machen Sie mir klar, dass dieses Krematorium funktionieren konnte. Und: Warum soll ich Ihnen glauben, dass dieses Lager hier bestanden hat? Auf diese Fragen gibt es vernünftigerere und unvernünftigerere Antworten, und es gibt sozusagen dokumentenbasiert nachprüfbarere. Die ziehe ich für diesen ganz basalen Erstkontakt mit der Geschichte vor, als dass ich sozusagen gleich sprachtheoretisch durchstarte. Dass über Auschwitz alles gleichermaßen sagbar wäre, das will mir nicht in den Kopf.

Sie haben am Ausgang Ihrer letzten Dauerausstellung zum „Buchenwald-Gedenken“ den spanischen Schriftsteller Jorge Semprun mit folgenden Worten zitiert: „Der Tag wird kommen, an dem es keine Überlebenden mehr gibt. Niemand wird mehr mit Wörtern der körperlichen Erinnerung sprechen können.“ Was kommt nach den Zeitzeugen?

Das, was wir uns im Kontext europäischer Kultur an Repräsentationsmitteln erarbeitet haben – aber bitte auf bestem Niveau. Man darf sich nichts vormachen – Historisierung ist unausweichlich. Gleichwohl sollten wir in Spannungsverhältnissen denken. Etwa in der Weise, dass jedes Objekt, das wir ausstellen, in der Perspektive der Überlebenden oder ihrer Angehörigen immer auch so etwas wie eine säkulare Reliquie, wie eine glücklicherweise erhaltene Flaschenpost ist: Wie ein Erinnerungszeichen, das einem der Wind von jemandem zugetragen hat, den der Mord unerreichbar macht.

Aber auf der anderen Seite ist es ein Sachdokument und muss es immer auch bleiben. Als wir versucht haben, das Massensterben darzustellen – 14.000 Menschen krepierten in den 100 Tagen vor der Befreiung des Lagers –, haben wir eine sehr große Vitrine gebaut, wo man fast nur Knöpfe sieht. Also Dinge, die ganz dicht am Menschen sind, die sowohl die Verlorenheit dieser Menschen visualisieren, aber auch, dass sie da gewesen sind. Das ist so ein Versuch mit diesen Spannungsverhältnissen umzugehen und beides zugleich zu schaffen: eine Art Ausbreitung von Corpi Delicti und von letzten Lebenszeichen. Denn eines muss man immer wieder betonen. Die Zeitzeugen, die die letzte Wirklichkeit von Auschwitz als Einzige so beschreiben könnten, wie sie war, die gibt es nicht. Sie sind in den Gaskammern umgekommen.

Interview FRITZ VON KLINGGRÄFF