Letzte Gefechte um Kosovo-Krieg

Ein Jahr nach Beginn des Kosovo-Krieges verurteilt das Amtsgericht Tiergarten den Politologen Wolf-Dieter Narr zu 7.500 Mark Geldstrafe. Er hatte einen Aufruf zur Fahnenflucht unterzeichnet. 17 Mitunterzeichner wurden zuvor freigesprochen

von DIRK HEMPEL

Wolf-Dieter Narr ginge lieber in den Knast, als die ihm auferlegte Geldstrafe zu zahlen. Zu 7.500 Mark wurde der Politikprofessor gestern vom Amtsgericht Tiergarten verurteilt. Anstoß der Justiz: ein Aufruf zur so genannten Fahnenflucht, der unerlaubten Entfernung von der Truppe.

Narr, Politikprofessor an der Freien Universität, hatte sich im vergangenen Jahr öffentlich gegen die Bombardierung Jugoslawiens durch Kampfflieger der Nato ausgesprochen. Zusammen mit 25 anderen Personen hatte er einen „Aufruf an alle Soldaten der Bundeswehr“ unterzeichnet und unter seinem Namen ein Sonderkonto unter dem Stichwort „Verweigerung“ eingerichtet. Unter anderem wurde das Corpus Delicti im April letzten Jahres als Anzeige in der taz abgedruckt. Narr steht zu dieser Initiative: „Das war richtig und ich würde es wieder tun.“

Denn der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, der heute vor genau einem Jahr mit einem Bombardement begann, ist nach Ansicht des Politikwissenschaftlers ein Verstoß gegen das Völkerrecht und gegen den Wesensgehalt des Grundgesetzes gewesen. Im Amtsgericht wollte Narr gestern lieber andere gerichtet sehen: die Nato, die Bundesregierung und die Staatsanwaltschaft. Denn die Achtung der Menschenrechte sei nur durch Gewaltverzicht möglich. „Der Aufruf ist daher legitim und ein legales Mittel gegen die herrschende Meinung und die Arroganz der Macht“, so Narr.

Deswegen plädierte der Professor auf Freispruch. Aber nicht irgendeinen Freispruch. Ein „konditionierter Freispruch“, so Narr, müsse her: Es solle nicht nur seine Unschuld, sondern auch die „Völkerrechtswidrigkeit des Nato-Angriffs“ festgestellt werden. Erfolglos.

Doch die Meinungen der Richter gehen auseinander. Erst Anfang März hatte ein anderer Richter des Amtsgerichts einen Unterzeichner des Aufrufes mit der Begründung freigesprochen, dass die Befehle im Kosovo-Krieg gegen das Gewaltverbot der UN-Charta verstoßen hätten und damit nicht verbindlich seien. Eine Ausnahme. Denn die meisten Richter haben den einfacheren Weg gewählt und die umstrittene Rechtmäßigkeit des Krieges unbeurteilt gelassen. Ihre Freisprüche begründeten sie mit dem Recht auf Meinungsfreiheit.

Die Kriegsgegner hingegen argumentieren vor allem mit den Grundrechten und dem Verbot eines Angriffskrieges in der deutschen Verfassung, dem Gewaltverbot der UN-Charta und der Erklärung der Menschenrechte von 1948. Über alle diese Regelungen hätten sich die Nato-Vertreter willkürlich hinweggesetzt, um das Militärbündnis als künftige weltweite Interventionstruppe zu etablieren. Nach den Richtlinien der Vereinten Nationen hätte aber zunächst der Sicherheitsrat entscheiden müssen, ob es keine gewaltlosen Alternativen gegeben hätte.

Was sie vor allem verärgert: dass sich die kriegsführenden Länder für ihren Feldzug auf die Wahrung der Menschenrechte berufen. Und damit ihrerseits den Verstoß gegen Menschenrechte in Kauf genommen haben: die Bombardierung ziviler Ziele, eine noch immer nicht exakt bezifferte Zahl von Toten und Verletzten und eine Massenflucht. Den heutigen Jahrestag des Kriegsbeginns will die Friedensbewegung daher nutzen, um auf die Verletzung von Kriegs- und Völkerrecht hinweisen. Der Landesverband der „Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegenerInnen“ demonstriert um 18 Uhr am Adenauerplatz gegen den „Angriffskrieg“ und die „kriegerische deutsche Außenpolitik“ am Adenauerplatz.

Für die Staatsanwaltschaft ist diese Kontroverse dagegen nicht von Bedeutung. Krieg ist eben Krieg – unabhängig von Vorgeschichte oder Begründung. Und Soldat ist eben Soldat. Deshalb müsse er in den Krieg ziehen, wenn es denn von ihm verlangt wird. Obwohl auch das Soldatengesetz vorsieht, dass völkerechtsverletzende Befehle von Bundeswehrangehörigen nicht befolgt werden müssen, scheint den Vertretern der Staatsanwaltschaft ein Aufruf zur Desertion nicht duldbar. Bei allen bisher vom Amtsgericht freigesprochenen Unterzeichnern des Aufrufs ist die Staatsanwaltschaft in die Berufung gegangen und will die Kriegsgegner erneut vor Gericht stehen sehen.

Auch Narr bleibt seiner Position treu: Das Urteil gegen ihn sei „reiner Unsinn“. Die Amtsrichterin könne „weder das Grundgesetz buchstabieren noch sonst juristisch argumentieren“. Deswegen will der Professor in die Berufung gehen. Den Gang ins Gefängnis wird er jedoch selbst dann nicht antreten müssen, wenn er die Zahlung verweigert. Dem Beamten würde die Strafe kurzerhand vom Gehalt abgezogen.