Krank – mit oder ohne Putin

Die Verhältnisse in russischen Kliniken spiegeln die marode Lage des Landes wieder. Putins Wahl ist kein Rezept dagegen

aus MoskauKLAUS-HELGE DONATH

Es flogen keine Funken, aber ein übler Brandgeruch stieg in die Nase. Kein Grund für den Arzt, den Eingriff zu unterbrechen. Im Gegenteil, das Ziel war fast erreicht, der Zahnkanal lag frei. Auf das fußgetriebene Bohrgestänge aus der Tschechoslowakei, Baujahr 1957, war immer noch Verlass. 1990 in einer Klinik im Zentrum Moskaus. Die Supermacht brüstete sich mit den Leistungen ihres kostenlosen Gesundheitswesens.

Zehn Jahre später: „Nur gesund sein ist teurer als leben“, hat ein Witzbold auf den Zaun um das riesige Areal der Moskauer Klinik 4 gepinselt. Mit siebzehn klinischen Abteilungen und 800 Betten gehört das nach seinem Gründer benannte Semaschko-Krankenhaus zu den großen der Stadt.

Die stellvertretende Chefärztin Ludmilla Surina ist eine jener resoluten und patenten Frauen, die überall in Russland in den sozialen Diensten arbeiten. Gesundheits- und Bildungswesen waren seit je fest in Frauenhänden. Aus einem einfachen Grund: Zu verdienen gab es nichts. Bis heute verlässt sich der Staat auf den Altruismus seiner Frauen.

Heilt etwa eine starkeDosis Patriotismus?

Das Semaschko indes zahlt seinen Angestellten bessere Löhne, da es nicht aus dem föderalen Haushalt finanziert wird. Betreiber ist das Eisenbahnministerium MPS. Ein Staat im Staate und einer der reichsten Monopolisten des Landes. Auch andere potente Großunternehmen wie der Gasgigant Gasprom haben eigene Krankenhäuser.

Sechs Millionen Patienten, Mitarbeiter der Bahn und ihre Angehörigen, haben Anspruch, kostenlos behandelt zu werden. Das Ministerium übernimmt vier Fünftel der Kosten, den Rest die Krankenversicherungen. „Trotzdem wachsen die Schulden“, sagt Ludmilla Surina.

Den gesunkenen Stellenwert des Landes empfindet gerade die technische Intelligenz als besonders schmerzlich. Wladimir Putin, der der schwächelnden Kollektivseele eine starke Dosis Patriotismus verabreicht, ist daher auch ihr Mann. Und ein Wunderheiler. Seit Jahren schauten die Russen nicht mehr so optimistisch in die Zukunft.

Das Semaschko ist stolz auf das, was in den letzten Jahren erreicht wurde. An neuester Technik fehlt es nicht. Demnächst trifft noch ein weiterer Computertomograph ein. „Der Lunar ist um soviel schneller als unser alter russischer Apparat“, schwärmt die Röntgenologin. Aus Kostengründen schaffte die Klinik neben einem Westmodell auch ein Gerät der jüngsten russischen Generation an: „Er bringt das Gleiche, braucht aber viel mehr Zeit.“

Die Klinik wird gerade rundum renoviert. Westliches Design zieht ein und damit Licht und Helligkeit. Man könnte auch sagen: ein wenig Lebensmut und Freude. Chefärztin Surina führt über die Korridore und verrät: Knapp ein Drittel der Patienten, die nicht zum Bahnimperium gehören, zahlen aus eigener Tasche. Firmen lassen ihre Mitarbeiter für einen Monatsbetrag gegen jegliche Gebrechen in der Klinik versichern. Surina nennt sie „Sponsoren“ und deutet auf das Baumaterial. Auch in Naturalien wird der Versicherungsbeitrag geleistet.

Der Patient wurde früher als Störenfried empfunden

Die drei Frauen in der Abteilung Inneres sind bester Laune, obwohl sie im noch nicht renovierten Trakt liegen. Rula stammt aus Puschkino, Bettnachbarin Ludmilla aus einer Kleinstadt, hundert Kilometer vor Moskau, und Galina hat es aus der tiefen Provinz in die Hauptstadt verschlagen. Sie ist Bahnhofsvorsteherin in einer kleinen Siedlung im Gebiet Woronesch. Magengeschwüre, Gallensteine, Bauchspeicheldrüse. Alle drei zwischen Ende dreißig und fünfundvierzig.

Ludmilla ist Buchhalterin in einem Privatunternehmen. Den Platz in der Klinik hat sie ihrem Mann zu verdanken. Vier Wochen liegt sie schon. In den nächsten Tagen wird sie entlassen und sitzt schon auf Kohlen: „Ich fürchte, die Geduld meines Arbeitgebers neigt sich dem Ende.“ Galina ist gelassen. Als Angestellte der Bahn verdient sie mit allen Zulagen auf dem Krankenbett mehr als am Arbeitsplatz. Und wegen Krankheit wird sie die Bahn nicht rausschmeißen.

Wie viele Russen glauben auch diese Frauen nicht, mit dem Wechsel an der Staatsspitze würde sich ihre wirtschaftliche Lage entscheidend verbessern. Putin? „Die Bahn fährt mit und ohne ihn“, kichert Galina. Zu klagen gäbe es einiges, meint Rula: Die Schwierigkeiten der Jungen, in der Provinz Arbeit zu finden, und der Wohnungsmangel. „Meine Tochter sitzt mir mit ihrem Mann auf der Pelle.“ Früher baute der Staat, heute nur noch die Reichen.

Den jungen Assistenzarzt Jura haben alle ins Herz geschlossen: „Was für ein freundlicher und verständnisvoller Arzt !“ In ihren Provinzkrankenhäusern hätten sie nie so viel Zuwendung erhalten. Eine neue Generation? Früher, sagt Krankenschwester Anja, sei der Arzt Teil des bürokratischen Systems gewesen. „Der Patient wurde als Belastung empfunden, ein Störenfried, wenn nicht sogar ein persönlicher Feind.“ Ganz langsam würde sich an dieser Einstellung etwas ändern, „aber wirklich nur ganz langsam“. Soziologen wollen festgestellt haben, dass sich auch Selbstverständnis und Ethos der Ärzte verändert haben. Mitgefühl, Pflicht und Disziplin seien keine Fremdworte mehr: „Zum Wertewandel tragen amerikanische Arztserien im russischen Fernsehen bei“, sagt Lew Gudkow vom Forschungsinstitut VZIOM, „sie erfüllen eindeutig eine erzieherische Aufgabe.“

Jura geht hart mit dem russischen Gesundheitssystem ins Gericht. Dabei sind es nicht die 28 US-Dollar, die er in einer gewöhnlichen Klinik im Monat Lohn erhalten würde, die ihn aufregen. „Jeder schafft nebenbei an“, sagt er, „man weiß das im voraus.“ Studenten scheint das nicht weiter abzuschrecken, nach wie vor sind die Medizinstudienplätze hart umkämpft.

Das Gesundheitswesen hat Jahrzehnte nicht darauf geachtet, den russischen Patienten zur Eigenverantwortung zu erziehen. Der Kranke sah im Arzt einen „Bürokraten in Weiß“, dessen Anordnungen man am besten unterlief, um keinen Schaden zu nehmen. Eine gestörte Beziehung, an der Staat und Gesellschaft grundsätzlich kranken.

Unterdessen rufe ein Drittel der Bevölkerung die „03“ schon wegen einer Kopfschmerztablette ins Haus – die ambulante medizinische Versorgung. In Russland gibt es nicht die Einrichtung des Hausarztes. Wer sich zu schwach fühlt, um in der Poliklinik um die Ecke einen Arzt aufzusuchen, ruft unter „03“ die „skoraja“, den Krankenwagen mit Arzt. Die Notärzte sind überfordert, und in den Spitälern landen leichte Fälle, denen man besser zu Hause helfen würde. Russland führt in der Statistik stationärer Behandlungen. Über den wahren Krankenstand sagt das nichts aus.

In der Poliklinik 203 im Südwesten Moskaus sitzen an diesem Nachmittag achtzehn Leute auf dem dunklen Flur. Polikliniken in den Neubaugebieten quer durchs Land sehen aus wie quadratische Schuhkartons aus der Sowjetzeit. Einige Besucher sind nur wegen eines Rezepts gekommen. Rentner, Soldaten, Arbeitsveteranen und junge Mütter erhalten Medikamente kostenlos. Leiterin Nina Futoran hält gerade eine neue Liste „privilegierter Empfänger“ in den Händen. Insgesamt sind es 27 Gruppen. Die Arzneimittel verschlingen einen beträchtlichen Teil des Budgets.

Seit 22 Jahren arbeitet Nina Futoran als Ärztin. Mit allen Zuschlägen erhält sie im Monat 100 US-Dollar. „Wer will dafür arbeiten?“, fragt sie. Die Poliklinik leidet unter akutem Personalmangel. Wo eigentlich acht Allgemeinmediziner vorgesehen sind, müssen sich fünf die Arbeit teilen. Fachkräfte wechseln dorthin, wo sich „nebenbei“ noch etwas dazuverdienen lässt, in großen Krankenhäusern oder in der rasch wachsenden Privatwirtschaft. „Das ist unser größtes Problem. Nur noch Mütter mit Kindern aus der Nachbarschaft übernehmen zeitweilig Jobs“, sagt Nina Futoran.

Wegen hoher Fluktuation und geringen Engagements des Personals hatten die Polikliniken früher schon einen miesen Ruf. „Wer konnte, suchte einen Arzt im Bekanntenkreis“, sagt Gallia, die sich heute nur krankschreiben lassen möchte. Gleichwohl nagen Russlands Ärzte nicht am Hungertuch. Ihr Zubrot ist recht üppig. Eine unabhängige Studie wies 1997 Einnahmen von 4,5 Milliarden Mark, die nicht in die Kasse des Gesundheitswesens flossen. Ein Zehntel des Staatshaushalts.

„Die Jugend“, sagt Nina Futoran, „kommt nicht mehr wie früher, um sich ein Attest zu holen.“ Die Jungen wollen auf keinen Fall ihren Arbeitsplatz verlieren. Junge Leute wenden sich oft erst an den Arzt, wenn die Krankheit fortgeschritten ist. Ältere leiden zudem häufiger an Stresserkrankungen, weil an den Einzelnen größere Anforderungen gestellt werden und die Arbeitssituation unsicher ist.

Alles in allem zieht Futoran dennoch ein recht optimistisches Fazit: Dank vorbeugender Impfungen und prophylaktischer Maßnahmen, die die russische Medizin erst seit wenigen Jahren vornimmt, erkranken immer weniger. Überdies werden die Bürger in den Städten langsam gesundheitsbewusster. „Männer, die gerne Raubbau mit ihrer Gesundheit treiben, etwas langsamer“, sagt Futoran. Starben sie noch vor fünf Jahren in der Hauptstadt mit 59, liegt das Durchschnittsalter inzwischen bei 63 – in der Provinz bei 61.

Russischer Fortschritt?

Das Universalheilmittel Wodka trägt erheblich zur niedrigen Lebenserwartung bei. Getrunken wird mit und ohne Putin.