„Kultur liegt nahe bei Volksgeist“

Ein Gespräch mit dem holländischen Publizisten Ian Buruma über die Vermischung von Politik, Kultur und nationalen Identitäten

Interview MARTIN HAGER

taz: Herr Buruma, Sie können eine multikulturelle Herkunft vorweisen: von Geburt Holländer, mit deutsch-jüdischen und englischen Eltern. Sehen Sie sich selbst als „Mister Intercultural“?

Ian Buruma: Nein. So etwas wie den vollständigen Kosmopoliten gibt es nicht. Aber weil alle meine Bücher mit dem Thema zu tun haben, wie die Menschen ihre eigene Nationalität sehen, wird natürlich in Rezensionen mein eigener Hintergrund gerne hervorgehoben. Wenn man mit zwei Familien in zwei Ländern aufwächst, sieht man die Welt automatisch aus zwei verschiedenen Perspektiven. Dadurch werden einem kulturelle Differenzen sehr bewusst und die Art, wie Menschen über Nationalität denken. Ich bin keine besonders mysteriöse oder besondere Persönlichkeit wegen all dieser Kulturen. Es ist heute gar nicht mehr ungewöhnlich mit verschiedenen kulturellen Perspektiven aufzuwachsen. Ganz im Gegenteil, in gewisser Weise wird meine Position zum Normalfall. In der Klasse meiner Tochter in London haben gerade einmal vier von 30 Schülern komplett britische Eltern.

In Ihren Artikeln über Asien kritisieren Sie die Advokaten des „Asian Way“, die sich auf das besondere asiatische Wesen berufen, um die dortigen autoritären Zustände zu erklären. Sind Sie ein Gegner des kulturrelativistischen Denkens?

Ich glaube nicht, dass alle Kulturen gleich sind oder dass kulturelle Unterschiede unwichtig sind. Aber wenn es um fundamentale Menschenrechte geht, wie das Recht, offen seine Meinung zu sagen, das Recht, nicht gefoltert zu werden, das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren – dann muss man mit kulturellen Erklärungsmustern sehr vorsichtig sein. Diese Erklärungen dienen oft als Rechtfertigung. Wenn Leute aus einem diktatorisch regierten Staat sagen: „Wir können aufgrund unserer Traditionen nicht dieselben Freiheiten gewähren wie in der westlichen Welt“, dann stellen sich zwei Fragen. Erstens, es mögen ja Traditionen sein, aber es sind schlechte Traditionen. Zweitens ändern sich diese Dinge. Im Deutschland der 1930er Jahre und des späten 19ten Jahrhunderts gab es eine Menge Leute, die gesagt haben, ein demokratisches System sei in ihrem Land nicht möglich. Wenn man dagegen Deutschland heute ansieht, so ist es immer noch dasselbe Land, aber die Traditionen haben sich verändert. Daher bin ich gegen das Gerede von „Asiatischen Werten“.

Sie sagen, was die Leute als Kultur verkaufen, sei in Wirklichkeit Politik. Was ist dann aber Kultur?

Es gibt Sitten, es gibt Gewohnheiten. Das Problem mit dem Begriff „Kultur“ ist folgendes: Seine Bedeutung wurde sehr stark von einer spezifisch deutschen Interpretation des Wortes beeinflusst. In England stand „culture“ früher für Kunst, für Sitten und Gebräuche. „Kultur“ impliziert viel mehr. Es steht für eine ganze Lebensart, die zu einem bestimmten Volk gehört, und liegt sehr nahe bei „Volksgeist“. Wenn dieses Denken politisiert wird – und das ist unausweichlich –, wird es gefährlich. Denn es wird sehr schnell zu einer konservativen Rechtfertigung dafür, den Status quo aufrechtzuerhalten, auch wenn er schlecht ist.

Steht diese These auch in Bezug zu dem Buch über chinesische Dissidenten, an dem Sie gerade arbeiten?

Es ist der Ausgangspunkt. Kommunismus als Ideologie funktioniert nicht mehr richtig, weil keiner wirklich daran glaubt. Aber gewisse Elemente der konfuzianischen Tradition sind in China noch sehr stark, und eines davon ist die Rolle des Intellektuellen als eines Sprechers des offiziellen Dogmas. Und das offizielle Dogma in China, Singapur oder sogar Hongkong ist genau diese Idee der „Asiatischen Werte“: Der Einparteienstaat – oder zumindest der autoritäre Staat – passt zu der chinesischen Tradition, dass es nicht genug Individualismus für eine Demokratie gibt, dass die Menschen das Gemeinwohl über individuelle Interessen stellen, dass Pflichten wichtiger sind als Rechte und so fort. All dies rechtfertigt autoritäre Regime. Mein Projekt ist, die Menschen in China zu suchen, die sich dieser Idee entgegenstellen, ob sie nun in China, Hongkong, Singapur, Taiwan oder in Übersee sind. Durch diese Individuen möchte ich zu einem Gegenargument zum Dogma der autoritär-asiatischen Werte kommen.

Glauben Sie nicht, dass diese Werte in gewisser Weise auch von der Bevölkerung geteilt werden?

Nein. Leute, die hoch gebildet sind – einschließlich der Intellektuellen – und daher eine Nische im System besetzen, halten diese Werte hoch. Wenn man aber mit Taxifahrern spricht oder Geldwechslern oder Arbeitern, sieht es ganz anders aus. Sie haben vielleicht nicht so klar ausgearbeitete politische Vorstellungen, aber sie haben eine klare Vorstellung davon, dass willkürliche Macht eine schlechte Sache ist, unter der sie leiden, und dass es Gesetze und Regeln geben sollte, die freie Rede und Ähnliches garantieren. Ich glaube nicht, dass es so etwas wie einen natürlichen, kulturell bedingten Gehorsam gegenüber der Autorität in asiatischen Ländern gibt. Leute, die ihre Ideen nicht so hoch halten, gehen auch in Asien zu McDonalds essen, ohne Angst zu haben, ihre Identität zu verlieren.

Sie schreiben, Asien sei für Sie ursprünglich nur eine Fantasie gewesen. Bleibt es nicht in gewissem Sinne für Europäer eine Fantasie?

Asien als Ganzes ist notwendigerweise eine Fantasie, weil es keine Kohärenz gibt, die den Kontinent als Ganzes zusammenhält. Was einzelne Länder anbetrifft, ist es anders. Es ist eine Frage der Vertrautheit. Wer sich ein Foto von Tokio ansieht, ohne je da gewesen zu sein, wird die Stadt für höchst exotisch halten mit all den riesigern Lettern in unbekannten Schriftzeichen an den Gebäuden. Wer länger da ist und die Sprache und Schrift kennt, sieht es anders. Wenn man weiß, dass die Schriftzeichen Werbung für Coca-Cola oder irgendeine Zahnpasta darstellen, ist es mit der Exotik vorbei. Und wenn man mit den Leuten redet, erzählen Sie von den Problemen mit Ihren Eltern oder Ihrem Chef. Sie werden zu ganz normalen Menschen wie anderswo auch. Es gibt sicher andere Essgewohnheiten und andere Sitten. Aber wenn man die Menschen näher kennen lernt, vergeht die Exotik sehr schnell.

Das Gespräch fand anlässlich einer literarischen Soirée des Weltenbürger e. V. in Hannover statt und wurde von der Volkswagen AG in Zusammenarbeit mit der Kulturzeitschrift Lettre International organisiert.