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: WLADIMIR KAMINER über ein jüdisches Fest

DER FRAUENFRÜHLING IN POTSDAM-KIRCHSTEIGFELD

Der Frauenclub – eine der aktivsten Abteilungen der Jüdischen Gemeinde zu Potsdam – richtete neulich angesichts der steigenden Temperaturen ein großes Frühlingsfest aus. Als ein passender Ort dafür erwies sich die moderne evangelische Kirche am Kirchsteigfeld, deren überaus toleranter Pfarrer für nahezu alles auf der Welt Verständnis hat und sich schon lange über nichts mehr wundert.

Wie angekündigt, begann die Feier mit einer Modenschau. Eine berühmte Designerin und Aktivistin des FrauenClubs hatte dazu eine Frühjahrs- und Sommerkollektion für selbstbewusste junge Mädchen entworfen. Die Kleider waren alle nach dem Prinzip „Oben ohne“ geschnitten. Die Designerin hatte für ihre Kollektion ziemlich viel Fantasie aufgewendet, aber nur wenig Stoff. Unter dem Beifall des Publikums liefen die Mädchen mit freien Oberkörpern über die vom männlichen Anhang des Frauenclubs aufgebaute Bühne. Dem Programmheft konnte man entnehmen, dass die Frühjahrs- und Sommerkollektion zuvor bereits in New York, Sydney und London – also quasi weltweit – vorgestellt worden war – und überall große Begeisterung ausgelöst hatte.

Der anschließende Auftritt der Kinderballettgruppe „Gänsehaut“ mit dem Tanz der kleinen Schwäne brachte das Publikum noch mehr auf Touren. Nur den Pfarrer ließ diese Vorstellung kalt. Der Mann vom Kirchsteigfeld hatte wohl schon einiges in seinem Leben gesehen. Nach dem Kinderballett kam der zusammengesetzte Chor der jüdischen Einwanderer und Russlanddeutschen mit seinem neuen Programm: „Uns geht es gut“. Sie trugen selbst gedichtete so genannte Schnadahüpfel vor – eine volkstümliche russische Sitte. Die Schnadahüpfel hatten in Russland immer eine große gesellschaftskritische Bedeutung, die oft in grotesker Form die überhörte Stimme des Volkes widerspiegelte. Der Chor setzte bei seinen Schnadahüpfel einige Sachbearbeiter des Potsdamer Sozialamts sowie der Einwanderungsbehörde der Kritik aus und rief zugleich alle jüdischen Einwanderer und die Russlanddeutschen auf, mehr zusammenzuhalten, d.h. ihre Freundschaft zu verstärken. Denn immerhin hätten beide Gruppen eine gemeinsame Vergangenheit: die Sowjetunion.

Als nächster Unterhaltungsgast trat ein Mann auf, der schon seit geraumer Zeit unter dem Spitznamen „Der Übersetzer“ in der Potsdamer EinwandererSzene bekannt ist.

Seit Jahren übersetzt dieser Mann den berühmtesten aller russischen Dichter, Puschkin – und zwar ein und dasselbe Gedicht und das immer wieder neu. Es heißt „An den Dichter“. Dieses Gedicht hatte Puschkin sich seinerzeit selbst gewidmet. Nun trug es „Der Übersetzer“ in einer neuen, modernen Version vor, in der sich alles reimte:

„Scher dich nicht drum, mein Freund, ob man dir Beifall spende/Bleib cool – gelassen bis ans Ende. Geh, freier Geist, wohin dein Weg sich wende/Und deiner Schöpfung Frucht mit stillem Schrei vollende.“

Am Ende der Veranstaltung des Frauenclubs der Jüdischen Gemeinde nahmen alle Anwesenden an einer Mahlzeit teil: die Mädchen mit freiem Oberkörper, das Kinderballett, der zusammengesetzte Chor der Jüdischen Gemeinde, der Puschkin-Übersetzer sowie auch einige zufällige Gestalten von der Straße, die zur nächtlichen Stunde noch Licht in der Kirche am Kirchsteigfeld gesehen hatten. Sie alle umzingeltenden den Tisch mit den Speisen und Getränken. Es gab Lebkuchen und Kadarka bis zum Abwinken.

Nur der evangelische Pfarrer blieb alleine in seiner Ecke sitzen. Auch nach dem letzten Bauchtanz, als die letzten nach Hause gingen, bewegte er sich nicht. Bestimmt blieb er noch die halbe Nacht dort sitzen und dachte darüber nach, was da gerade alles passiert war.