: In fremden Betten
Als Theaterintendant in Basel ist Michael Schindhelm zur Zeit enorm erfolgreich. Nun legt er mit „Roberts Reise“ ein Buch vor und hat das Wörtchen Roman drauf geschrieben
von JÜRGEN BERGER
Bei einer Wundertüte weiß man zwar nicht, was sie enthält, dafür aber sofort, dass es eine Wundertüte ist. Mit einer Mogelpackung dagegen ist das so eine Sache. „Mogelpackung“ drauf schreiben geht nicht, da sie ansonsten nicht gekauft würde. Auf Michael Schindhelms erstem Buch steht das Wörtchen Roman, vor der Frage allerdings, was tatsächlich drin ist, stellen sich andere Fragen. Schindhelm ist Intendant an einem deutschsprachigen Theater, und dazu noch einer der erfolgreichsten. Kaum zu glauben. Da wurde das Basler Theater tatsächlich zum Theater des Jahres gewählt und gerade mit zwei Produktionen zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Und jetzt auch noch das: Mehr als dreihundert Seiten Buch vom Intendanten, wo doch alle Intendanten aller Bühnen alle Eide schwören, dass sie nur deshalb gelegentlich mehr als der Bundeskanzler verdienen, weil sie sich von morgens bis abends für ihr Theater zerreißen.
Wie aber geht das? Sich von morgens bis abends so erfolgreich zerreißen und dann auch noch ein Buch abliefern? Entweder lügen alle Intendanten aller deutschsprachigen Bühnen, oder Michael Schindhelm ist eine Ausnahmeerscheinung. Und zwar nicht nur eine, die nach der Wende die Theater in Gera und Altenburg leitete und in den vergangenen zwei Spielzeiten aus dem Basler Theater ein Erfolgsmodell machte. Sondern auch eine Ausnahmeerscheinung, die uns von einer Ausnahmeerscheinung erzählt, die Robert heißt und zu Zeiten der DDR den Spagat geschafft hat, gleichzeitig eine Eliteausbildung zum Chemiker zu absolvieren und dabei Außenseiter zu bleiben.
Zur Eliteausbildung gehört ein mehrjähriger Studienaufenthalt beim großen sozialistischen Bruder, was den erzählerischen Gehalt von „Roberts Reise“ insofern steigert, als die Reise ausgerechnet nach Woronesch geht. Das liegt am Don und ungefähr auf halber Strecke zwischen Moskau und Schwarzmeerküste. Wie Thomas Brussig in „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ beschreibt Schindhelm das DDR-Außenseitertum des angehenden Chemikers als innere Emigration unter Verwendung von Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll. Sex bedeutet wiederholtes Aufgehen der „Mitternachtssonne“ über fremden Betten, gefolgt von mehrwöchigem Abtauchen in zunehmend heimischen Betten. Die Besitzerin des ersten heißt Sweta (Fichtenburg, inmitten der Technischen Hochschule), die des zweiten Tene (Woronesch, inmitten einer Ruhrepidemie), wobei das Abtauch-, sprich Erzählmuster sich auffällig gleicht. Immer ist da eine Frau mit Höhle, deren Ehemann oder Mitbewohnerin zufällig gerade aushöhlig ist, wenn Robert sich einhöhlt.
Drugs bedeutet Wodka und nebenbei etwas Marihuana. Rock ’n’ Roll unter anderem „The times they are-a-changing“ und „Lucy in the Sky with Diamonds“. Das geht insofern in Ordnung, als damit sowohl das straßenkämpferische als auch das psychedelische Protestpotenzial der Zeit genannt wäre. Lennons „Working Class Hero“ hätte sich eigentlich auch ganz gut gemacht, nur wäre dann wohl doch zu auffällig gewesen, wie offensichtlich da am Mythos innerer Emigration bei konstant vorangetriebener Chemikerkarriere gebastelt wird.
Damit an dieser Stelle kein Missverständnis entsteht: Einer wie Robert kann durchaus eine derartige DDR-Sozialisation hinter sich bringen. Was allerdings auf die Nerven geht, ist die sich ständig wiederholende Akzentuierung des Außenseitertums, als müsste sich da irgendjemand für irgendetwas rechtfertigen.
Ist Robert zurück aus Woronesch und melancholisch im Grau der Ostberliner Akademie der Wissenschaften gelandet, nimmt Pathos überhand. „Die Abende gehörten den zurückgezogenen Seancen mit billigem Weinbrand, ich wohnte zur Untermiete, lebte, dachte, las zur Untermiete. Wohl dem, der keine Heimat hat.“ Spätestens da verabschiedet Schindhelm sich von jeglicher ironischen Elastizität gegenüber seinem Erzählgegenstand, was insofern ins Gewicht fällt, als Schindhelms Held zwar Robert heißt, aber Schindhelm ist. Also kein Ich-Erzähler, der zur Kunstfigur durchgeformt wäre, sondern ein von sich erzählender Schindhelm.
Da in „Roberts Reise“ keine Anstrengung unternommen wird, aus biografischem Material literarische Figuren und fiktionale Stränge zu entwickeln, liest man unverblümt, wie das so war in Schindhelms Leben. Irgendwie muss auch dem Autor aufgefallen sein, dass er für einen Roman denn doch etwas zu eingleisig biografisch fährt. Also versucht er ein zweites Gleis einzuziehen, wird dabei aber noch unverblümter biografisch, landet in der Gegenwart und in Castiglione d'Intelvi über dem Comer See. Irgendwo dort steht das Sommerhaus des Erzählers und geht es als Kontrast zum „Es war einmal“ um Zurückgezogenheit inmitten der Stressmoderne, kurze Seitenhiebe gegen die „drei Tenöre“ und aufdringlich häufig um „Palimpseste“. Das allerdings fällt kaum noch ins Gewicht, da der Werbetext zum Buch von Sigrid Löffler gebastelt worden ist. „Ein Buch, das Staunen macht“, steht da, womit genau der Zustand vorweggenommen wäre, der sich während der Lektüre von „Roberts Reise“ einstellt – nachdem man eine Wundertüte aufgerissen und darin eine kleine Mogelpackung gefunden hat.
Michael Schindhelm: „Roberts Reise“. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München 2000. 315 Seiten, 39,80 DM
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