Der wilde, wilde Osten

Einsame Wölfe, bei Magdeburg: Der Dokumentarfilm „Ausfahrt Ost“ erzählt von drei Langzeitarbeitslosen

Kürzlich tauchte ein dreibeiniger Wolf kurz vor Berlin auf. Zwei Wochen lang lebte er mit einer deutschen Schäferhündin im Wald zusammen, dann nahm man ihn gefangen. Da war was los im Odergebiet. Die Grenzschützer mussten einen harten Rüffel einstecken: Wie zum Hohn war der Wolf auch noch dreibeinig über die „sicherste Grenze der Welt“ gelangt. Der Quasi-Titelsong des Films „Ausfahrt Ost“ ist ein Country-Hit: „Wilde Pferde, wilde Wölfe, wildes Land“. An ihn musste ich bei der Wolfsnachricht denken.

Der wilde Osten: „Geh nach Sibirien, junger Mann, dort wachsen dir die Gürkchen ins Maul“, riet Gorki einst. Seit 1917 kommen kaum noch solch gute Nachrichten von dort. Sie werden sogar immer schlimmer. Der Tagesspiegel vermutete deswegen auch sofort, dass der Wolf von dorther gekommen sein müsse. Dazu passt, dass jetzt gerade der Spätheimkehrer-Bestseller „So weit die Füße tragen“, der als TV-Serie seinerzeit der erste deutsche Straßenfeger war, in Sibirien neu verfilmt wird. Es geht darin um die Flucht eines deutschen Kriegsgefangenen aus sibirischen Lagern, lange nach der Schlacht um Stalingrad, die ebenfalls gerade neu verfilmt wird. Der Westen nutzt seine Deutungsmacht unbarmherzig aus. Der FAZ-Slawist Schlögel meinte neulich schon: „Sibirien ist eine deutsche Seelenlandschaft!“ Ich halte es dagegen mit Adorno, für den Sibirien bereits kurz hinter Frankfurt am Main – ab dem Vogelsberg etwa – begann.

Die beiden jungen Filmemacherinnen Judith Keil und Antje Kruska drangen nun weit darüber hinaus: Sie kamen etwa bis Magdeburg, wo sie wegen allzu „schlechtem Wetter und schlechter Sicht eine zufällige Abfahrt“ nahmen. Schließlich landeten sie in der Trucker-Raststätte „Hungriger Wolf“ – nahe der Ortschaft Möser (sic). Dort lernten sie die zwei langzeitarbeitslosen Ostler Nico und Lenne kennen sowie den nochbeschäftigten Tomcat, der sich als rebellischer Südstaatler begreift – und oft auch so herumläuft. „Eigentlich alles Antihelden“, wie die zwei Filmemacherinnen meinen. „Loser“, um im Jargon der Countrymusik zu bleiben.

Neben ihrem Hang-out, dem Truck-Stop „Hungriger Wolf“, spielt natürlich auch das für die Jungs zuständige Arbeitsamt eine Rolle in dem sehr liebevollen Film. Es geht um Feststellungs- und Umschulungskurse. „Wir wissen, Sie können das Maßnahmenziel erreichen“, sagt z. B. ein Sachbearbeiter zu Nico. Es geht ferner um die Fahrerlaubnis und um einige vergebliche Versuche, mittels Heiratsanzeigen die richtige Frau zu finden. Die drei Antihelden sind oft aber ungern lonely. Die Mutter des einen macht sich bereits Sorgen, dass sie an der langen Arbeitslosigkeit ihres Sohnes vielleicht mitschuldig sein könnte.

Bei einer erstmaligen Besprechung des Films „Ausfahrt Ost“ war mir dazu natürlich sofort die Berliner Treuhandanstalt – mit den von ihr „Großflugtagen“ genannten Massenentlassungen – eingefallen. Und deswegen hatte ich abschließend nur noch darauf hingewiesen, dass einerseits viele Treuhand-Manager „Fuchs“, „von Bismarck“ oder „Wolf“ mit Nachnamen hießen – und von den Ostbetriebsräten einer sogar „Lammfromm“. Jetzt – mit Erscheinen des dreibeinigen Wolfs kurz vor Berlin – ist mir natürlich klar, warum. Und auch dass das Imperium jetzt anscheinend wölfisch zurückschlägt! Das beruhigt mich in gewisser Weise. Ich glaube an die Gerechtigkeit! Aus dem im letzten Jahr entstandenen Film „Ausfahrt Ost“ geht das jedoch noch nicht direkt hervor – dass sich im Osten langsam ein (dreibeiniger) Widerstand formiert. Das Rebellische wirkt da – in Möser – noch etwas verstockt.

HELMUT HÖGE

„Ausfahrt Ost“. Regie: Judith Keil und Antje Kruska. Deutschland 1999, 80 Minuten