Das schwedische Trauma

„Wir müssen nur unsere Gesetze öfter überprüfen.“ Der aktuelle Untersuchungsbericht sucht die Schuld nur beim „Zeitgeist“ der Dreißigerjahre

aus Stockholm REINHARD WOLFF

1947 schlug der Justizombudsman erstmals Alarm. 1950 erschienen die ersten Zeitungsberichte über Zwangssterilisierungen in Schulheimen. Doch erst 1976 wurden die fraglichen Gesetze aufgehoben, und erst 50 Jahre nach den ersten alarmierenden Meldungen rang sich der Staat zu einer halben Entschuldigung und zur Zahlung einer lächerlichen Entschädigungssumme durch.

Rund 63.000 Menschen waren in Schweden aufgrund von Behördenbeschlüssen in den Jahren 1935 bis 1975 unfruchtbar gemacht worden. 95 Prozent davon waren Frauen. Ein Großteil davon gegen ihren Willen oder gar ohne dies überhaupt zu wissen. Die Gründe für einen Sterilisierungsbeschluss der Behörden reichten von gesundheitlichen bis zu rassistischen und sozialen Indikationen. „Zigeuner“ oder „rassisch gemischt“ zu sein, reichte aus, um eine Nachkommenschaft als „unerwünscht für die Gesellschaft“ begründen zu können. Viele junge Mädchen wurden nur deshalb zwangssterilisiert, weil Verwandte oder Behörden fanden, sie führten ein „unmoralisches Leben“. Rechtliche Grundlage für die Zwangsmaßnahmen bildeten zwei Gesetze aus den Jahren 1934 und 1941, die noch in großem Umfang in den Fünfzigerjahren und vereinzelt sogar bis in die Siebzigerjahre hinein Anwendung fanden.

Eine von der Regierung in Stockholm eingesetzte „Sterilisierungs-Kommission“ legte nach dreijähriger Arbeit zu Beginn dieser Woche ihren Abschlussbericht vor. Der enthält außer einer umfassenden historischen Bestandsaufnahme nur einen Vorschlag: Kein Gesetz solle über einen so langen Zeitraum wie von 1941 bis 1976 gelten, ohne erneut wenigstens diskutiert worden zu sein. Kommissionsvorsitzender Carl-Gustaf Andrén erklärte: „Es ist nicht angebracht, zentrale ethische Wertungen über so lange Zeit am Leben zu halten, ohne sie auch nur zu diskutieren.“

Auf die Frage nach dem Warum gibt auch der Bericht nur kursorische Antworten. Das schwedische Zwangssterilisierungsgesetz entsprach im Inhalt ähnlichen Gesetzen in Deutschland und allen anderen nordischen Ländern. Politisch fand die Sterilisierungsgesetzgebung im ganzen Parteienspektrum Unterstützung. Die Gesundsheitsbehörde, die alle Sterilisationen absegnen musste, vertrat offenbar die gleichen Wertmaßstäbe wie die antragstellenden Ärzte, Sozial- und Schulbehörden: Weniger als ein Zehntel aller Anträge auf Zwangssterilisationen wurden abgelehnt. Laut Kommissionsbericht wurden etwa 6.000 Sterilisierungen unter körperlichem Zwang durchgesetzt, und bei 20.000 bis 25.000 Fällen müsse von „zwangsähnlichen“ Formen ausgegangen werden.

Es sind viele Fälle bekannt, in denen etwa Schul- und Berufsausbildung oder die Entlassung aus Krankenhäusern und Anstalten von einer Operation abhängig gemacht wurde. In einem Anhang des Kommissionsberichts sind die Berichte von neun Frauen und Männern über ihre Sterilisierungen – alle aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren – wiedergegeben: Inger, jetzt 66 Jahre, die nach zwei Geburten im Zusammenhang mit einer Abtreibung sterilisiert wurde, weil sie angeblich nicht für weitere Kinder sorgen könne. Die behinderte Kerstin, die vor dem Eingriff überhaupt nicht informiert worden war. Der Landarbeiter Yngve, der nur einen Job auf einem Bauernhof bekam, wenn er „die Operation“ machte. Gunborg, die ein behindertes Kind bekommen hatte und nach Meinung ihres Hausarztes deshalb nicht mehr schwanger werden durfte. Sara, die ein Heim für schwer erziehbare Mädchen nur verlassen durfte, wenn sie das Einverständnis unterschrieb: „Der Heimleiter steckte einfach einen Stift in meine Hand und wartete.“

Der Kommissionsbericht sieht es nicht als seine Aufgabe an, „eine moralisierende Position einzunehmen“. Landet auf diesem Weg aber schnell in gefährlicher Nähe, alles mit dem „Zeitlauf“ zu entschuldigen: „Die Werteverschiebungen, welche der Zeitlauf mit sich bringt, entfremdet uns in unserer Gegenwart gleichzeitig die Vergangenheit. Unsere ethischen Prinzipien können wir nicht der Vergangenheit aufprägen.“ So bleibt es lediglich „bemerkenswert“, wie das Gesetz in der Nachkriegszeit immer mehr zu sozialpolitischen Zwecken eingesetzt wurde, dass Einwandererfrauen deutlich überrepräsentiert waren und es überhaupt nur schwache und unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen traf. Verantwortlich, so das Fazit, könne eigentlich niemand gemacht werden: Passivität des Gesetzgebers habe dazu geführt, dass in Schweden bis in die erste Hälfte der Siebzigerjahre Menschen gegen ihren Willen sterilisiert worden seien. Und eher zufällig hatten Jahrzehnte später die Medien das so auffallend schnell vergessene Thema ausgegraben.