Versgeschmiede

Wo ist der Sekt? Pünktlich zum zwanzigjährigen Jubiläum melden sich die Einstürzenden Neubauten mit dem Album „Silence is sexy“

von MAX DAX

Zwischen fünfzig Jahren Nato und zehn Jahren Wiedervereinigung liegen zwanzig Jahre Einstürzende Neubauten. Vor genau einem Jahrzehnt, am 1. April 1990, feierte die Band, die im Ausland gern neben Kraftwerk, Porsche und Adorno als ursprünglicher Ausdruck deutschen Wesens herangezogen wird, auf einer Berliner Bühne schon einmal Jubiläum. Damals schmückten Lorbeerkranz und Copyright-Zeichen das archaische Bandlogo, ein dreist aus einem Kunstbuch geklautes Strichmännchen. Das mit dem Copyright war ein erfrischender, kleiner Scherz angesichts der Herkunft sowohl des Logos (Höhlenmalerei) als auch der Band mit ihrer stolz zur Schau getragenen Ernsthaftigkeit, ihrem Leidwesen und ihrer Bedeutungsdichte.

Zur Erinnerung: Die Einstürzenden Neubauten konnten schon 1990 auf eine beachtliche Reihe von außergewöhnlichen Auftrittsorten zurückblicken. Konzerte auf der documenta, unter Autobahnbrücken, in Fabrikhallen, auf Marmorklippen, unter Stahlgewittern und im Bernsteinzimmer hatten den Namen der Band in immer neuen Kontexten und immer kulturelleren Zusammenhängen auftauchen lassen, dass einem nur mehr schwindelig werden konnte. Einstürzende Neubauten, das war bald nicht mehr nur die Band, die mit Bohrmaschine, Dampframme, Mikrofonen in Rumpsteaks und Aufputschmitteln im Blut lärmte. Einstürzende Neubauten waren spätestens seit ihrem dekadenprägenden Album „[1]/2 Mensch“ auch kreischende Mädchen in Tokio, Blixa Bargelds verspiegelte Pilotenbrille, Besuchen Sie Berlin! und all die unglaublichen Geschichten aus dem „Risiko“, dieser speedverseuchten Absturzkneipe mit Hinterausgang auf die S-Bahn-Trassen.

Heute ist das Jahr 2000, das Jahr zehn nach David Carsons (Ray Gun) Dekonstruktion der Sehgewohnheiten. Das Cover des neunten Studioalbums der Einstürzenden Neubauten besteht aus fotografierten Oberflächen der zerkratzten und mit einer Patina belegten Instrumentenkisten aus Stahl und einer Typografie, wie sie vor Carson nicht denkbar gewesen wäre und doch längst zum Standard geworden ist. Der Gedanke drängt sich auf: Die Zeiten könnten so schnell geworden sein, dass eine Band wie die Einstürzenden Neubauten, die sich in ihren Gründernächten den Anarchismus und die Improvisation auf die Alkoholfahnen geschrieben hatten, nicht mehr Schritt halten könnte. Die Frage ist, ob das so schlimm ist.

Das weitgehend im Wolperather Can-Studio aufgenommene Doppelalbum trägt den gewöhnungsbedürftigen Titel „Silence is sexy“ und erscheint auf den Tag genau zwanzig Jahre nach dem Aprilscherz von 1980. Aufgeteilt in fünf Suiten und einen allein stehenden Song, wartet das Album mit der raffiniertesten, leidenschaftlichsten und zugleich selbstreferenziellsten musikalischen Ausarbeitung seit etlichen Jahren auf, wahrscheinlich seit ihrem 1989er Meisterstück „Fiat Lux“ von ihrem bisher erfolgreichsten Album „Haus der Lüge“. Interessanterweise hat auf der anderen Seite noch kein Album dieser Band so sehr nach einem Solo-Album ihres Sängers Blixa Bargeld geklungen. Allgegenwärtig schwebt die Stimme dieses dem Rubicon, dem Riso Nero und dem Rebhuhn verfallenen, einst ungesund spindeldürren Fürsten der Dunkelheit über den Takes von „Silence is sexy“. Als ob die Musiker es längst aufgegeben hätten, ihren Hut und feine Florentiner Tücher tragenden Chef zu kritisieren, liegen auf dem neuen Album nackenhaarsträubende Versgeschmiede („Erst tanzte ich mit Mnemosyne, die, glaub ich, eine echte Muse war . . . Irgendwann fing ich an zu singen, und ich sang, bis die Putzkolonne kam“) ganz nahe den nahe gehenden Momenten: „Melancholie schwebt über der neuen Stadt und über dem Land (...), über den heimlichen Bunkeranlagen, die nicht wegzukriegen sind, Marlene go home!, und über dem Marlene-Dietrich-Platz“, singt Bargeld müde und mit der Stimme desjenigen, der seine Hörner längst abgestoßen hat und sich langsam, aber sicher von den Slogans und Posen der Vergangenheit entfernt. Ein Lied wie „Die Befindlichkeit des Landes“ mit seinen wunderschönen Klangebenen, seiner Musik gewordenen Sehnsucht und seinen von Bargeld geradezu freundlich gesprochenen Worten zeigt, dass diese Band aus Berlin keinesfalls nur mehr stumpf den eigenen Mythos reproduziert. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass die kantigen literarischen Ambitionen Blixa Bargelds auf „Silence is sexy“ an mehr als einer Stelle die Musik schlicht übersprechen.

Dass eine völlig andere Band die Bühne betreten wird als jene, die vor zwanzig Jahren im Berliner Moon Musikgeschichte schrieb, und das mit FM Einheit und Mark Chung zwei Antipoden Bargelds das Schiff zwischenzeitlich verließen, ist nebensächlich. Wichtig ist, dass es die Einstürzenden Neubauten unter dem Dirigat Bargelds geschafft haben, entrückt zwar, aber systematisch beobachtend, einen Gegenpol für eine Welt zu finden, die sich unersättlich vergnügt. Allein schon deswegen sind die Einstürzenden Neubauten ein Mahnmal für einen besseren Lebensentwurf.