Halbvolles Fass ohne Boden

Blühende Landschaften im Osten? Wir werden sie erleben. Vielleicht. Aber bis dahin muss noch kräftig gestützt werden

von NICK REIMER

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reinhard Höppner wirkte erschrocken: „Die Sache dauert länger, als wir dachten.“ Die Sache, das ist die wirtschaftliche Angleichung der ostdeutschen Bundesländer an den Westen. Gemeinsam mit Berlins Regierendem Bürgermeister und den anderen ostdeutschen Länderchefs hatte Höppner am Mittwoch in Magdeburg die Studie „Infrastrukturelle Nachholbedarfe Ostdeutschlands“ beraten. Die neuen Länder hatten sie Auftrag gegeben, sie soll eine fachliche Grundlage zu den anstehenden Solidarpakt-II-Verhandlung liefern. Das Ergebnis ist tatsächlich einigermaßen ernüchternd: Der wirtschaftliche Aufbau des Ostens wird die alten Bundesländer weitere 500 Milliarden Mark kosten. Höppner bemühte sich, zu beschwichtigen: „Der Boden ist da, und das Fass ist halb gefüllt.“

Vier Institute zeichnen verantwortlich für die Expertise: das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), das Münchner ifo-Institut, das Institut für Wirtschaftsforschung Halle, das Institut für ländliche Strukturforschung aus Frankfurt am Main und das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) – jeweils zuständig für unterschiedliche Problembereiche. Vier „teilungsbedingte Sonderlasten“ ermittelt der Gesamtbericht.

70 Prozent der West-Ausstattung

Allein, um die ostdeutsche Infrastruktur dem Westniveau anzunähern bedarf es nach DIW-Berechnung 280 Milliarden Mark, das RWI kommt gar auf einen Betrag von 375 Milliarden. Wenn der Solidarpakt I im Jahre 2004 ausläuft, werden die Ostländer erst etwa 70 Prozent der Ausstattung des Westens aufweisen können. Blieben die derzeitigen Transferleistungen und die äußeren Rahmenbedingungen nahezu unverändert, käme es laut RWI erst 2030 zu einer Angleichung der Infrastruktur Ost an das Westniveau.

Das meiste Geld wird nach Ansicht der Wissenschaftler der Ausbau des Straßennetzes kosten. Gemessen an der Netzdichte im westdeutschen Durchschnitt ergebe sich ein Nachholbedarf von 53,5 Milliarden Mark, wovon der größte Teil auf den weiteren Ausbau des Autobahn- (20,5 Milliarden) und Kreisstraßennetz (15,6 Milliarden) entfällt. Selbst beim Vergleich mit wirtschafts- und finanzschwachen Ländern Westdeutschlands liegt der Investitionsbedarf im Osten noch immer bei 42,5 Milliarden. Auch Anschluss und Sanierung der Kanalisation werden noch einen Batzen Geld kosten. Die Experten sprechen von „20 bis (eher) 50 Milliarden Mark“. Gute Nachrichten nur aus Schulen und Krankenhäusern: Schon 2004 soll es hier kaum noch Defizite geben.

Doch nicht nur öffentliche Infrastruktur, auch die Wirtschaft bedarf im Osten noch der Förderung. Betrug das Bruttoinlandsprodukt in den alten Ländern 1998 knapp 50.000 Mark pro Kopf, so lag der Wert im Osten der Republik bei etwa 31.200 Mark – knapp 63 Prozent des Westwerts. „Dieser Abstand“, so die Gutachter, „spiegelt sich in der Ausstattung der Betriebe mit Ausrüstungsgegenständen wieder.“ Mit 260 Milliarden Mark beziffern die Experten die „industrielle Ausstattungslücke“, die sich vor allem aus dem Fehlen von Industrieunternehmen ergibt. Schlussfolgerung der Institute: Will man diese Lücke schließen, müssen rund 104 Milliarden Mark direkte Investitionszuschüsse fließen.

Damit noch nicht genug: Auch der ostdeutsche Arbeitsmarkt bedarf starker Stützen. Anfang dieses Jahres lag die Arbeitslosenquote bei 20,6 Prozent im Osten – mehr als doppelt so hoch wie im Westen.

Nur im Westen mehr Arbeit

Und während sich in den alten Bundesländern ein positiver Trend abzeichnet (die Arbeitslosenzahl reduzierte sich dort im Vergleich zum Vorjahr um 6,6 Prozent), verschlechtert sich die Lage im Osten weiter. Konkrete Summen wollen die Wirtschaftsinstitute nicht nennen, fordern aber eine Weiterführung staatlicher Arbeitsförderung. Im Januar 2000 waren im Osten knapp 260.000 Menschen in einer Strukturanpassungs- oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) beschäftigt, im Westen dagegen lediglich knapp 69.000 Personen.

Als vierte und letzte durch die Teilung Deutschlands bedingte Last führen die Gutachter die unterproportionierte kommunale Steuerkraft der Ostländer an. Während in westdeutschen Flächenländern die Kommunen rund 1.500 Mark Steuern pro Einwohner einnahmen, stehen den ostdeutschen Gemeinden nur knapp 38 Prozent dieser Summe zur Verfügung. Nur unwesentlich anders sind die Zahlen für Großstädte. So konnte etwa Berlin im letzten Jahr nur die halbe Steuerkraft westdeutscher Stadtstaaten aufweisen. Die letzten Steuerschätzungen lassen die Vermutung leider nicht zu, dass sich an dieser Schwäche in absehbarer Zeit etwas ändern wird. „Die Differenzierung zwischen der westdeutschen und ostdeutschen kommunalen Steuerkraft entspricht einem Transferbedarf von 14,6 Milliarden Mark“, so die Studie. Weil ein Teil des Geldes über den Länderfinanzausgleich abgedeckt wird, bleiben jährlich 8,8 Milliarden Mark, die über die Landeshaushalte den Kommunen zufließen sollen.

Die ostdeutschen Regierungschefs bemühten sich am Mittwoch um die Feststellung, dass es sich bei der Studie nicht um ihre Forderungen, sondern – wie es Sachsens Regierungschef Kurt Biedenkopf formulierte – „um eine sachverständige Einschätzung dessen, was gesamtstaatlich zu leisten ist“, handle. Die Länderchefs mochten daher auch nicht über einen Zeitplan der Transfers oder gar Jahreshöhen reden. Reinhard Höppner: „Wie die Zahl 500 letztlich geteilt wird, werden die Beratungen mit Bund und Ländern ergeben.“