Vierzehn Schrittebis zum Thron

Tennessee hat als einziger der amerikanischen Südstaaten seit 1960 keinen zum Tode Verurteilten mehr hingerichtet. Doch das wird sich ändern. Philip Workman soll am 6. April auf dem elektrischen Stuhl sterben. Er hat nur noch eine Hoffnung: Pfarrer Joe Ingle. Aber auch der glaubt kaum noch an eine Begnadigung in letzter Minute

von JÜRGEN SCHAEFER (Text)und GIGI COHEN (Fotos)

Wir gehen mit vorsichtigen Schritten den Weg, der Philip Workmans letzter sein wird. Sechsundneunzig Schritte aus dem Zellenblock Nummer zwei in die Cafeteria, achtundzwanzig Schritte durch die Cafeteria, durch zwei Stahltüren, achtzehn Schritte in die Todeszelle. Dort wird er drei Tage bleiben. Sechs Schritte zum Fensterschlitz, umdrehen, sechs Schritte zum Gitter. Am letzten Tag von der Zelle in die Hinrichtungskammer. Vierzehn Schritte, vielleicht ein paar mehr, der Fußketten wegen.

Das ist Epoxidharz, sagt Captain Tyler und klopft anerkennend gegen den braunen Thron in der Mitte der Kammer, Material aus der Raumfahrt, hitzebeständig. Die Sitzfläche durchlöchert, darunter eine Auffangwanne für die Fäkalien. Tyler wird Philip auf seinen letzten Schritten begleiten, ihn notfalls mit Gewalt auf dem Stuhl festschnallen.

Totenstill ist es in der Kammer, so still, dass das Ticken der Uhr an der Wand zu hören ist. Tick. Pause. Tick. Pause. Zehn. Neun. Acht, sieben, sechs, im Nebenzimmer der Generator; fünf, vier, drei, ein verchromter Druckknopf, ein grünes Licht flackert betriebsbereit; zwei, eins. Zweitausendzweihundert Volt.

Failsafe Electric Chair“, steht auf dem Bedienungspult, störungssicherer elektrischer Stuhl. Seit mehr als zwanzig Jahren kämpft der Südstaatenpfarrer Joe Ingle, 52, für die Abschaffung der Todesstrafe in seiner Heimat, mit der Vehemenz einer göttlichen Berufung. Ihm ist es zu verdanken, dass in Tennessee als einzigem der Südstaaten noch alle Todeskandidaten leben. Und dass, auch dies einzig im Süden, Jugendliche und geistig Behinderte nicht zum Tode verurteilt werden dürfen. Zweimal wurde Joe Ingle für den Friedensnobelpreis nominiert, dennoch hatte er das FBI auf den Fersen. Die Universität Harvard lud ihn als Fellow und finanzierte seine Forschung. Viele seiner Gefangenen wurden in den Jahren, in denen er um Gnade für sie warb, sie einforderte, zu Freunden. Zwanzig hat er verloren. Mindestens fünf waren unschuldig, glaubt er.

Aufgewachsen in North Carolina, fand Ingle seine Mission 1971 als junger Seminarist in New York. In seinem Apartment im Latino-Ghetto East Harlem sitzend, sah er eines Tages im Fernsehen mit wachsendem Horror einen Bericht über die Gefangenenrevolte im Attica-Gefängnis, die blutig, mit 39 Toten, niedergeschlagen wurde. Tage später fuhr Ingle ins nahe Gefängnis in der Bronx. „Mit schweißnassen Händen, aus Angst vor diesen kriminellen wilden Tieren“ ließ er sich in einem Zellblock einschließen, redete zwei Stunden mit den Einsitzenden. Und begann zu begreifen.

Zwei Jahre später kehrte er zurück in den Süden, kurz darauf erklärte das Oberste Bundesgericht die Todesstrafe wieder für zulässig. Fünfzehn Jahre lang kreuzte Joe Ingle fortan durch die Südstaaten, organisierte Anwälte und Widerstand, fastete sich halb bewusstlos aus Protest. Spürte wieder und wieder kostbare Lebenszeit verrinnen, hielt untröstliche Angehörige in seinen Armen, durchwachte Nächte in banger Hoffnung auf Aufschub, auf Gnade.

1990 war er am Ende seiner Kräfte. Diagnose: Multiple Sklerose. Der Ruf nach Harvard kam einer Lebensrettung gleich, dort vertiefte er sich in Statistiken und Philosophie, in Staatsrecht und Geschichte auf der Suche nach Antworten. Fasste seine Erkenntnisse in einem Buch zusammen und kehrte wütender denn je zurück nach Tennessee.

Am 5. August 1981 überfällt Philip Workman ein Wendy’s-Schnellrestaurant in Memphis, er wird von der Polizei angehalten, zieht seine Waffe, feuert dreimal. Ein Polizist bleibt tot am Tatort zurück. In der Verhandlung porträtiert der Staatsanwalt Workman als eiskalten Copkiller. Der Pflichtverteidiger, lustlos oder überfordert, bringt nichts zur Entlastung vor. Die Jury verurteilt Workman zum Tode.

Neun Jahre später rollt der Rechtsanwalt Chris Minton den Fall wieder auf und entdeckt haarsträubende Verfahrensfehler. Der Autopsiebericht des toten Polizisten zeigt eindeutig, dass die tödliche Kugel nicht aus Workmans Waffe kam. Minton ermittelt, dass der Hauptbelastungszeuge, ein Schwarzer, sich erst am Tag nach der Schießerei bei der Polizei gemeldet hat. Obwohl er die kaltblütige Ermordung des Polizisten aus nächster Nähe gesehen haben will, wurde er von keinem am Tatort bemerkt, nicht mal von der Polizei. Joe Ingle hat sich seinen eigenen Reim auf die Nachforschungen gemacht: „Der Polizist starb im Kreuzfeuer durch eine Kugel eines Kollegen. Daraufhin hat die Polizei eine Geschichte fabriziert, und der Pflichtverteidiger war zu unfähig, um die Vertuschung aufzudecken.“

Workmans Fall ist typisch. Die Todesstrafe werde „nicht für das schlimmste Verbrechen, sondern für den schlechtesten Anwalt“ verhängt, beklagt Stephen Bright, Direktor des „Southern Center for Human Rights“. Fast alle Todeskandidaten in den USA sind arm, neunzig Prozent werden von Pflichtverteidigern vertreten. Eine gerechte Verhandlung sei dabei fast unmöglich, schließt das National Law Journal aus einer Studie über die Justiz in sechs Südstaaten: Verhandlungen über Kapitalverbrechen glichen „dem Werfen einer Münze“, weil die Verteidiger „schlecht ausgebildet, unvorbereitet und grob unterbezahlt“ seien. Wer sich gewissenhaft in seinen Fall vertieft, verdient am Ende weniger als ein Hilfskoch bei McDonald’s. Wer zudem die falsche Hautfarbe hat, ist noch schlechter dran, vor allem im Süden. Ein Schwarzer, der in Georgia einen Weißen ermordet, hat ein zweiundzwanzigfach höheres Risiko, zum Tode verurteilt zu werden als ein Weißer, der einen Schwarzen ermordet.

Befürworter führen als Argumente immer wieder drei Argumente an: Die Todesstrafe sei abschreckend, es sei billiger, die Verurteilten hinzurichten als sie „lebenslang durchzufüttern“, und außerdem kämen Lebenslängliche ohnehin nach wenigen Jahren frei, um dann erneut zu morden. Nichts davon ist wahr. Studien belegen, dass die Todesstrafe Verbrechen nicht verhindert, besonders auf die Mordrate keinerlei Einfluss hat. Der US-Bundesstaat North Carolina hat ausgerechnet, dass jede Hinrichtung im Schnitt zwei Millionen Dollar teurer ist als „lebenslänglich“, vor allem wegen der aufwendigen Verfahren. Lebenslängliche werden im Schnitt nach vierzehn Jahren freigelassen, das Risiko, dass sie erneut morden, liegt niedriger als im Bevölkerungsdurchschnitt.

Die Todesstrafe, noch vor zwei Jahrzehnten kaum Wahlkampfthema, entscheidet heute oft über die politische Karriere eines Kandidaten. Eine Lektion, die auch Präsident Bill Clinton rechtzeitig begriff. Als 1992, im Vorwahlkampf von New Hampshire, seine Affäre mit Gennifer Flowers ans Licht kam und seine politische Karriere bedrohte, flog der Gouverneur zurück in seinen Heimatstaat Arkansas, eigens um das Gnadengesuch des Schwarzen Ricky Ray Rector abzulehnen. Rector hatte zwei Menschen erschossen, sich dann die Pistole an den Kopf gesetzt und abgedrückt. Er überlebte schwer hirngeschädigt – so schwer, dass er von seiner Henkersmahlzeit das Nusstörtchen beiseite legte und dem Wärter erklärte, das wolle er sich aufheben „für nach die Exekution“.

„The Politics of Death“, die Politik des Todes, nennt Joe Ingle die Bereitschaft amerikanischer Politiker, „ihre Karriere darauf zu gründen, andere Menschen umzubringen“. Gefangen im Ränkespiel politischer Eitelkeiten, haben Todeskandidaten heute wenig Chancen, auf die Gnade ihres Gouverneurs zu hoffen, wenn sie ihre Rechtsmittel erschöpft haben. Auch Philip Workman kann sich kaum Hoffnung machen. Sein Anwalt Chris Minton bemüht sich seit Jahren, das Verfahren neu aufzurollen. Bisher vergeblich. Joe Ingle setzt wenig Vertrauen in Gouverneur Don Sundquist: „Er hat öffentlich bekannt gegeben: ‚Ich hoffe, dass wir die erste Hinrichtung noch auf meiner Wache haben werden.‘“

Wir treffen Philip Workman im Zellenblock zwei. Die Fotografin darf ihn im Besuchsraum fotografieren, soll aber nicht mit ihm reden. Fragen darf ich nur im „non contact“-Bereich stellen, getrennt durch eine Glasscheibe. „Wir sind nur für die ordnungsgemäße Durchführung der Strafe verantwortlich, mit dem Urteil haben wir nichts zu tun“, erklärt die PR-Beauftragte des Gefängnisses, Pamela Hobbins, ohne dass ich sie gefragt hätte.

Philip ist herzlich, guter Laune, doch seine Schirmmütze will er nicht abnehmen: „Meine Haare sind etwas dünn geworden“, meint er. Unter dem Schild wache braune Augen, die mich prüfend mustern. Er trägt Jeans mit dem Aufdruck „Tennessee Dept. of Correction“, ein graues Shirt und darüber das blaue Häftlingshemd; unter dem Arm eine Studienbibel in schwarzem Leder. Auf seine Schirmmütze hat er mit weißer Schrift „JOB 13:15“ geschrieben, eine Bibelstelle: „Obwohl Er mich tötet, so will ich Ihm doch vertrauen.“

Philip erlebte seine Erleuchtung nach sechs Jahren in der Todeszelle, am tiefsten Punkt angekommen. „Ich hatte dreimal denselben Traum: Ich grub einen Tunnel, um zu entkommen, doch ich konnte immer nur nach unten graben, tiefer und tiefer. Jedesmal schlängelte sich von oben ein Strick nach unten, um mich hochzuziehen. Jedes Mal kauerte ich in der Ecke meines Tunnels, beim dritten Mal griff ich zu. Wurde hochgezogen und sehe, dass Jesus mich hochgezogen hat, zurück in meine Zelle. Da habe ich begriffen, dass Jesus meine einzige Rettung ist.“ Seitdem verbringt er täglich Stunden mit Bibelstudium, hat sich den Adventisten des Siebten Tages angeschlossen, einer fundamentalistischen Christengruppe, die eine wörtliche Interpretation der Bibel fordert.

Mehrere Male war er nahe dran, seine Berufung aufzugeben, „weil ich den Sinn nicht mehr sah“. Draußen interessiere sich sowieso niemand für seine Geschichte, nicht einmal dafür, dass er das Verbrechen gar nicht begangen haben kann, für das er hingerichtet werden soll. Und schon gar nicht für die Umstände: den alkoholkranken Vater etwa, der ihn grün und blau prügelte und ihn dann ins Erziehungsheim steckte, wo ihn die Wärter grün und blau prügelten. Und auch nicht dafür, dass er mit Kokain zugeknallt war, als er das Restaurant überfiel, und dass er der Kassiererin extra noch gesagt hat: Behalte dein eigenes Geld, ich will nur das vom Geschäft. Und: Ich brauche dein Auto, aber ich parke es in der Nähe, dann hast du es morgen wieder. Und nicht dafür, dass er ihr extra noch ihren Hausschlüssel vom Schlüsselbund abgefummelt hat.

Sechs Schritte zum Fensterschlitz, umdrehen, sechs Schritte zum Gitter, umdrehen, stunden-, tage-, jahrelang. Der Tod, glaubt Philip, sei nur einen Augenblick von der Wiederauferstehung entfernt, „es ist, als ob du einschläfst und am nächsten Morgen aufwachst. Auch wenn du Stunden geschlafen hast, fühlst du dich, als ob es nur ein Moment gewesen sei“. Über seine Hinrichtung denkt er wenig nach, „es würde nichts Gutes tun“.

So viel weiß er, wenn sie ihn nicht knebeln, wolle er singend in den Tod gehen, wie die Christen im Kolosseum von Rom, sagt er und singt: „Blessed Assurance, Jesus Is Mine...“ Und lacht. Der Wärter klopft an die Tür: Die halbe Stunde sei um. Noch ein wenig länger?, frage ich. Nein, er habe seine Order, sagt er bedauernd.

Terry Workman hat die gleichen braunen Augen wie sein Bruder, nur trauriger. Wir treffen ihn am nächsten Tag im Haus von Susan, Philips Frau, eine knappe Stunde Autofahrt durchs hügelige Tennessee vom Hochsicherheitsgefängnis entfernt. Philips Enkelkinder toben durchs Haus, mühsam von Philips Tochter Michele in Schach gehalten, die ihren Jüngsten auf dem Arm hält, den fünf Monate alten Cody.

Terry ist der älteste der drei Brüder Philips – und derjenige, der mühsam versucht zusammenzuhalten, was von der Familie übrig geblieben ist. Er ist extra aus dem Osten angereist, um mit uns zu reden, doch es fällt ihm schwer. „Das bringt doch sowieso nichts“, sagt er patzig. Philip war sein Baby Brother, „ich sehe heute noch, wie meine Mutter ihn vom Krankenhaus nach Hause brachte“. Kurze Zeit später zerbrach die Familie, die Mutter lief davon. Heute lebt sie im Norden, zu Philip hat sie keinen Kontakt, der Vater starb vor Jahren.

Mit Mühe rekonstruiert Terry die Verhandlung vor siebzehn Jahren: „Wir saßen in der letzten Reihe im Gerichtssaal, und der Richter zeigte mit dem Finger auf uns: ‚Und wenn ich jetzt das Urteil verkünde, will ich keinen Laut hören.‘ Wir waren alle schuldig. Jeder im Gerichtssaal wollte uns bestrafen.“ Wenn er könnte, gäbe er sein Leben, den toten Polizisten zurückzubringen, sagt Terry Workman leise und knetet seine Hände. Wem es nützen soll, wenn sein Bruder stirbt, versteht er nicht. Trotzdem ist er in den Jahren vorsichtig geworden, ihn zu erwähnen. „Ich hoffe, sie bringen ihn bald um“, sagte ihm einer ungerührt. Die Todesstrafe lastet wie eine tödliche Krankheit über der ganzen Familie.

Am Abend ruft Philip an, aus der Zelle. Susan stellt den Telefonlautsprecher an, alle versammeln sich um das graue Kästchen. „Es tut so gut, bei euch zu sein“, sagt Philip ruhig.

Die beiden lernten sich über eine Annonce kennen, vor fünf Jahren. „Wenn du an Matthäus 25:40 glaubst, möchte ich dein Herz kennen lernen“, hatte Philip geschrieben. „Was du dem Geringsten angetan hast, hast du mir angetan.“ Susan meldete sich, Philip rief zurück, „am 10. Juni 1994 um halb acht Uhr abends“. Er erklärte seine Situation und dass er bibelgläubige Freunde draußen suchte. „Nachdem ich mit ihm gesprochen hatte, war ich verloren“, erzählt sie scheu, „es war Liebe beim ersten Hören, sozusagen.“ Und schweigt verlegen. Philip sagt erst nichts, dann: „Du bist so süß. Das hast du noch nie gesagt.“