Im Schattender Alhambra

Der Ort symbolisiert Großes: Vor einem halben Jahrhundert letzte Bastion der alten maurischen Kultur, ist Granada heutzutage eines der Zentren islamischer Renaissance in Spanien. Einwanderer und Neumuslime aus ganz Europa beschäftigt die Sinnsuche zwischen islamischen Traditionen und modernem Leben

von SIGI LIEB

Der Ruf des Muezzins ist in Granada seit mehr als fünfhundert Jahren nicht mehr zu hören. Doch jetzt wächst wieder ein Minarett gen Himmel. Die Moschee entsteht oben, am Gipfel des Altstadthügels, dem Albaicin, gleich neben der Kirche San Nicolas. Jeden Tag genießen hier, am Platz San Nicolas, hunderte von Touristen eine der schönsten Aussichten Europas, auf die maurische Festungs- und Palastanlage Alhambra und die dahinter liegenden weißen Gipfel der Sierra Nevada.

Für die Muslime zählt besonders der symbolische Wert des Ortes. Die Alhambra steht nicht nur für das friedliche Zusammenleben von Muslimen, Christen und Juden im Maurenreich al-Andalus. Von hier aus floh 1492 mit Boabdil der letzte Maurenherrscher der iberischen Halbinsel, nachdem er den katholischen Königen Isabella und Ferdinand kampflos den Stadtschlüssel übergeben hatte.

Mit den katholischen Königen kam die Inquisition nach Granada und damit das Ende der Toleranz. Ein Vertrag, der den Muslimen den Beibehalt ihrer Gebräuche und Sitten garantieren sollte, blieb blanke Theorie: Die mehr als hundert Moscheen der Stadt wurden zerstört oder in Kirchen umgewandelt. Islamische Schriften wurden verbrannt. Wer nicht zum Christentum wechselte oder rechtzeitig floh, wurde umgebracht.

Mehr als fünf Jahrhunderte später erlebt Spanien eine Renaissance des Islam. Vor allem in Andalusien entdecken viele Spanier ihr arabisches Erbe und treten zum Islam über. Waren 1980 gerade rund zweihundert Muslime in Granada registriert, bekennen sich inzwischen schätzungsweise fünf- bis sechstausend Einwohner Granadas zum Islam. Dazu kommen noch Studenten aus islamischen Staaten und illegal in der Stadt lebende Ausländer. In ganz Spanien wird die Zahl der Muslime auf bis zu eine halbe Million geschätzt, genauere Daten gibt es nicht, denn Muslime werden als solche nicht offiziell registriert. Anders als bei der christlichen Taufe müssen das Bekenntnis zum Islam nur zwei normale Gläubige bezeugen.

Auch Umar Faruq hat als Octavio Guitiérrez der katholischen Kirche den Rücken gekehrt und ist Muslim geworden. In seinem Laden am Fuß des Albaicin-Hügels, mitten im touristischen Zentrum Granadas, verkauft er Kunsthandwerk aus Andalusien und Marokko. Er habe damals, Ende der Siebzigerjahre, nach einem Sinn in seinem Leben gesucht, erzählt er. „Wir wollten alternative Wege gehen, probierten einfach alles aus, rauchten auch Haschisch und machten all diese Hippiesachen.“

Irgendwann kam Umar dann über Freunde in Berührung mit dem Islam. Er habe sich die Gedanken des Islam angehört, fand sie gut und sei, ebenso wie sein Bruder und einige Freunde, Muslim geworden.

Das war 1982. Franco war erst seit sieben Jahren tot. Spanien steckte mitten im gesellschaftlichen Umbruch. Demokratie und Freiheit waren noch ungewohnt und hatten sich bis dahin nicht in der Gesellschaft verfestigt. Unzufrieden mit dem gesellschaftlichen Wandel, sahen vor allem politisch aktive Studenten linker Gruppierungen eine Alternative im Islam. Manche zogen sich zurück in die Einsamkeit der Berge in den Alpujarras. Viele blieben in Granada, ließen sich in der historischen Altstadt an der Alhambra nieder. Im Albaicin lebte sowieso kaum noch jemand. Die Häuser waren verfallen, auf den Straßen trieben sich Diebe und Drogendealer herum.

Heute ist der Albaicinhügel – den die Unesco zum Weltkulturerbe erhoben hat – touristischer Anziehungspunkt. Die Neumuslime haben renoviert und sich nach und nach ihre muslimisch geprägte Infrastruktur geschaffen. Die Gassen sind voller Menschen. Es riecht es nach Mandeln und Minze. Aus Bars sind Teestuben geworden, und die Kellner servieren jetzt an Stelle von Bier und Wein Dutzende verschiedener Teesorten. Statt Tortilla bieten die Restaurants Falafel und Couscous an. Fliegende Händler werben mit Teekannen und Lederwaren, mit Räucherstäbchen und Silberschmuck um die Aufmerksamkeit der Passanten. Kunsthandwerkläden locken mit Keramik voller Vogel- und Granatapfelmotive. Die Calderia Nueva, die vom Zentrum Granadas hinaufführt zum Platz San Nicolas und künftig zur neuen Moschee, ist von einem orientalischen Bazar kaum noch zu unterscheiden.

Die Renaissance des Islam wundert Indalecio Lozano Camara, Arabischlehrer an der Universität von Granada, nicht: „Unsere ganze Kultur, unsere Sprache steckt doch voller Wörter arabischen Ursprungs; ob der Plaza de Bib-Ramla oder die Puerta Elvira und natürlich die Alhambra.“ Dann sei es doch nur logisch, dass Andalusier auf der Suche nach einem Sinn in ihrem Leben im Islam gleichzeitig etwas Exotisch-Fremdes und etwas Nahes und Verwandtes sehen, meint Indalecio.

Die islamische Vergangenheit ist in Granada allgegenwärtig. Nicht nur die hoch über der Stadt thronende Alhambra erinnert stetig an die früheren maurischen Herrscher. Zahlreiche Kirchtürme können ihre Vergangenheit als Minarett nicht verbergen. Ganz unscheinbar dagegen, fast versteckt sogar, ist das Gemeindezentrum der Konvertiten: ein schlichtes, weiß getünchtes Haus, nur wenige Minuten von der Moschee-Baustelle entfernt. Kein Schild, keine Klingel weisen auf den Mieter hin. Nicht einmal eine Hausnummer ist angebracht.

Auch die Büroeinrichtung wirkt karg und pragmatisch. Hinter dem Schreibtisch sitzt ein junger Mann am Telefon und organisiert ein Treffen der Neumuslime in Casablanca. Ayyub ist 22 Jahre alt und Brite. Er ist seit eineinhalb Jahren Muslim. Ayyub beziehungsweise Christian King hatte die Nase voll, in England als DJ durch die Clubs zu touren. „Ich merkte plötzlich, wie oberflächlich das alles war, und das ging mir ziemlich auf die Nerven“, erzählt Ayyub. Dann habe er Muslime in der Nähe von London kennen gelernt und sich in eine Muslimin verliebt. Granada ist nach Ansicht von Ayyub unglaublich wichtig für Muslime, denn schließlich sei die ganze westliche Lehre, Philosophie und Algebra, durch die Muslime in Andalusien nach Europa gekommen, erklärt er.

Und die Muslime in Europa zieht es nach Granada. Moumina Sow, eine Homöopathin aus Deutschland, wollte Granada nur besuchen. Als sie gemerkt hat, wie viele konvertierte Spanier hier leben, ist sie mit ihrem senegalesischen Mann und ihren vier Kindern in der Stadt geblieben. Das war vor einem Jahr. „Wir haben schon ganz viele Leute kennen gelernt und fühlen uns als Teil dieser Gesellschaft“, erzählt sie begeistert. „Das hätte uns an anderen Orten wohl nicht so passieren können.“ Besonders nahe sind ihr die spanischen Muslime auch, weil sie auf eine ähnliche Art und Weise zum Islam gekommen sind wie sie selbst. Sie können auf keine muslimische Tradition zurückgreifen und müssen ihren Islam in der direkten Begegnung mit dem Koran erst noch finden.

Die meisten Neumuslime in Granada sind Sufis. Der Sufismus betont die Mystik im Islam. Das geistige Oberhaupt der Sufis in Granada ist Abdel-Kader. Der Schotte, der mit bürgerlichem Namen Ian Dallas heißt, hat sich in mehreren islamischen Ländern von anerkannten Sufimeistern unterweisen lassen und wurde schließlich zum ersten anerkannten „Sheikh“ des Okzidents. Von London aus gründete er Gemeinden in ganz Europa, auch in Deutschland.

Die Gemeinde in Granada ist eine der größten und sehr gut organisiert. Manche Leute sagen, die muslimische Gemeinde um Sheikh Abdel-Kader sei eine mächtige Sekte. Für Moumina Sow ist das aber kein Thema. Sie lernte den Sufismus erst in Granada kennen, und als Homöopathin und Heilpraktikerin empfand sie die spirituelle Ausrichtung der Sufilehre als sehr wohltuend. „Das passt auch irgendwie zu meiner Vorstellung vom Menschen, alle drei Seiten – Gefühl, Verstand und Körper – müssen eine Einheit bilden.“

Beeindruckt ist Moumina vom Selbstbewusstsein der spanischen Muslime. Sie kämpfen für ihre islamische Infrastruktur und erreichen ihre Ziele. Es sind eben Spanier, hier geboren, genau wie ihre Eltern und Großeltern. Es ist ihr Land, ihre Heimat, in der sie ihre Religion leben wollen.

Dafür wollen sie auch eine richtige Moschee mit Minarett und Muezzin. Geplant ist das schon seit Anfang der Achtzigerjahre. Zur Grundsteinlegung kam es aber erst 1996. Der Baubeginn verzögerte sich wegen historischer Funde an der Baustelle erneut um ein Jahr. Mohammed Ali el Cordobe, einer der ersten konvertierten Spanier und jahrelang zuständig für den Moscheebau, sieht die politischen und gesellschaftlichen Widerstände gegen den Moscheebau vor allem auf konservativer Seite. Es gäbe einfach Leute, bei denen noch der alte Geist drin stecke, sagt er. „Sie haben Angst, islamische Kräfte könnten Granada sozusagen zurückerobern.“ Das sei natürlich Quatsch, fügt er hinzu, und mittlerweile hätten die Leute auch gemerkt, dass der Islam keine Gefahr darstelle.

Für die meisten Granadiner gilt das wohl auch. Sie nehmen den Moscheebau kaum zur Kenntnis. Anders sehen das die Alteingesessenen des Albaicin, zumeist alte Leute, die hier geboren wurden und ihr ganzes Leben in dem Viertel verbracht haben. Abends, bevor die Sonne untergeht, treffen sie sich am Platz San Nicolas. Vor der Kirche sitzen sie auf der kleinen Mauer, links die Männer, rechts die Frauen, und unterhalten sich über den Tag, die Zeit und was es sonst noch zu reden gibt.

Die Moschee lehnen sie ab. „Wir wollen die Moros nicht!“, ruft eine alte Frau. „Die sind schlecht und hässlich!“, fügt eine andere hinzu. Die rassistischen Züge ihrer Aussagen sind nicht zu überhören, aber es sind alte Leute, deren Wohnviertel sich in den vergangenen Jahren massiv verändert hat. Gleichzeitig entdecken immer mehr Reisegruppenleiter den touristischen Wert der Moschee. Sie führen die Urlauber ganz bewusst an die Baustelle und erzählen voller Stolz, dass Granada nach fünfhundert Jahren wieder eine Moschee akzeptiert.

SIGI LIEB, 29, lebt und arbeitet als freie Journalistin in Köln. Im vergangenen Jahr hielt sie sich mehrmals in Granada auf