Growians Enkel

Die Windkraftbranche hat in Deutschland jetzt zu einem Höhenflug angesetzt.Das neueste Flaggschiff der Firma Nordex hat eine technische Leistung von 2,5 Megawatt

Für Michael Klingele war es ein besonderer Tag. Ingesamt zwei Wochen hat der Baustellenleiter gebraucht, um mit seiner Mannschaft die derzeit weltweit größte Serienwindkraftanlage hochzuziehen. „Das gesamte Projekt ist von uns generalstabsmäßig vorbereitet worden“, meint der 32-jährige gelernte Techniker. Ende Februar war es dann so weit. Bundeskanzler Gerhard Schröder und NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement waren angereist, um auf dem Windtestfeld in Grevenbroich bei Düsseldorf den Super-Propeller einzuweihen.

Auf der alten Abraumhalde am Rande des rheinischen Braunkohlereviers blies ein kräftiges Lüftchen. Das Windrad mit der Typenbezeichnung N-80 sprang sofort nach dem Knopfdruck durch die Politprominenz an. Es ist ein technisches Wunderwerk deutscher Ingenieurkunst – in der Windkraftszene nennt man die Mühle nicht ohne Grund den „Enkel des Growian“. Nicht ohne Stolz erklärte Hans Fechner, Vorstand der Borsig Energy: „Die Anlage ist ein Quantensprung in der Technik. Sie trägt dazu bei, dass die Windkraft endgültig die Schwelle der Wirtschaftlichkeit überschreiten kann.“ Rund ein Jahr haben die Ingenieure der Borsig-Tochter Nordex an der Entwicklung des Megawatt-Propellers getüftelt. Fast 9 Millionen Mark sind investiert worden, knapp 2,2 Millionen hat das Land Nordrhein-Westfalen beigesteuert. Bei einer Windgeschwindigkeit von 15 Metern pro Sekunde (m/s) bringt die Turbine eine Leistung von 2,5 Megawatt (MW) – ausreichend, um 1.250 Haushalte mit Strom zu versorgen.

Mit der N-80 knüpft die Windkraftbranche an legendäre „Oldies“ wie die Anfang der 80er-Jahre im Kaiser-Wilhelm-Koog bei Brunsbüttel errichtete „Große Windkraftanlage“ (Growian) an. Die damals von MAN gebaute Supermühle hatte eine Leistung von 3 MW, die Rotoren kamen auf einen Durchmesser von 100 Metern, und auch die Nabenhöhe betrug 100 Meter. „Wir werden die N-80 hier in Grevenbroich auf Herz und Nieren prüfen lassen“, meint Borsig-Chef Fechner.

Rund ein Jahr soll der Koloss auf dem Testfeld dazu seine Flügel im Wind drehen. In dieser Zeit wollen die Ingenieure eine exakte Leistungskurve erstellen. Sie ist die wichtigste Größe bei einem Windrad. Denn in Verbindung mit dem Windangebot eines Standortes ist die Leistungskurve bei der Energieprognose geplanter Windparkprojekte von entscheidender Bedeutung. „Unsere Kunden können so verlässlich kalkulieren, mit welchen Erträgen sie bei einer N-80 rechnen können“, erklärt Fechner.

Mit 120 Meter Gesamthöhe und 80 Meter Rotordurchmesser braucht sich die neue Turbine nicht mehr hinter dem längst demontierten Veteranen Growian zu verstecken. Ganz im Gegenteil: In Sachen Wirtschaftlichkeit soll die Riesenmühle je Kilowatt bei 1.300 Mark liegen. „Das wäre rekordverdächtig“, weiß Nordex-Mitarbeiter Michael Klingele. Klar ist, dass die Anlage künftig dual genutzt werden soll. Die Turbine soll sowohl im Binnenland als auch an windstarken Küstenstreifen umweltfreundlichen Strom produzieren.

Aber auch für Offshore-Projekte, also für Standorte im Meer, ist sie vorgesehen. Und deswegen soll bereits in diesem Frühjahr eine zweite Mühle in Dänemark ins kalte Nass gestellt werden. Die Nordex-Schmiede hofft, mit dem dänischen Energieversorger Elsam ins Geschäft zu kommen. „Die wollen große Offshore-Kapazitäten in den nächsten Jahren installieren“, erklärt Fechner.

Große Chancen rechnet sich der Manager aber auch in den USA aus. Dort steigt schon heute der Bedarf an Riesenpropellern. Hunderte von Windrädern der ersten Generation mit einer bescheidenen Leistung von 100 bis 300 Kilowatt werden dort gegen große Megawatt-Mühlen ausgetauscht. „Im Rahmen von Repowering-Maßnahmen könnte eine unserer Turbinen gegen fast zehn 300er-Anlagen ausgetauscht werden“, sagt Fechner. Wenn die Nutzung der Windenergie im großen Maßstab ausgebaut werden solle, dann müsse grundsätzlich, so der Borsig-Manager, mehr Energie aus der verfügbaren Rotorfläche geholt werden. Und das gehe eben nur mit leistungsfähigeren Anlagen. Für Ende des Jahres haben die Nordex-Leute nach Abschluss der ersten Testserien in Grevenbroich den Start der Serienfertigung geplant. MICHAEL FRANKEN