Gespräche ohne Worte

Porträtistin der Moderne: Die große Fotografin Gisèle Freund, Soziologin mit der Kamera, stirbt mit 91 Jahren in Paris

von MAGDALENA KRÖNER

„Sie war vor allem eine große Realisitin“, sagt die Baseler Galeristin und enge Freundin von Gisèle Freund, Anita Neugebauer, über sie. Nach längerer Krankheit ist die am 19. Dezember 1908 in Schöneberg geborene französische Fotografin in Paris in der Nacht zum Freitag an Herzversagen gestorben. Sie wurde 91 Jahre alt und begann schon früh zu fotografieren. Die intimen fotografischen Porträts der Pariser Intellektuellen-Elite, die Gisèle Freund weltberühmt machten, zeigten sie alle: beginnend bei Malraux und Gide über Sartre, de Beauvoir bis hin zu Virginia Woolf.

Dabei war es gerade die Porträtfotografie, die die „kleine schwatzhafte Person“, wie sie ihr Mitemigrant Walter Benjamin einmal nannte, in ihrer Dissertation „Photographie und bürgerliche Gesellschaft“ in der Nachfolge der Malerei als Komplizin des bürgerlichen Selbstverständnisses entlarvt hatte. 1936 verfasst, erschien die mittlerweile längst zum Standardwerk gewordene Untersuchung in Deutschland übrigens erst im Jahr 1968.

Doch der Lebensweg Gisèle Freunds zeigt, dass die Fotografien, die sie berühmt machten – so etwa die „Drei Tage mit James Joyce“ oder die Annäherung an Evita Perón –, die Weiterentwicklung dieser Analysen ohne Worte sind, wenn auch die viel gerühmte Nähe der Fotografin zu ihren Porträtierten nicht unumstritten war. Wenn Benjamin im Jahre 1936 in seinem zweiten Pariser Brief lobend erwähnt, dass Freunds Analysen der Fotografie „... im Geiste des dialektischen Materialismus“ vorgehen, so scheint dies vielleicht nur noch entfernt im Zusammenhang mit ihren späteren Arbeiten zu stehen. Doch lässt sich Freunds Arbeit bis zuletzt als ganz persönlicher Wunsch lesen, die Menschen zu beobachten und sie nicht nur an der Oberfläche, sondern in ihrem Kern, ihrer geistigen Gestalt zu erfassen.

Ein Versuch, den sie an vielen Brennpunkten dieser Erde unternehmen konnte, führte sie ihre wechselhafte Biografie doch von Deutschland nach Paris, dann über Argentinien und Mexiko (wo die berühmten Porträts von Frida Kahlo entstanden) wieder zurück nach Paris.

Freund, die Soziologin mit der Kamera, machte sich schon früh durch engagierte Reportagen einen Namen: So dokumentieren ihre Fotos von den Demonstrationen zum 1. Mai in Frankfurt im Jahre 1932 das aufkeimende Selbstbewusstsein der Nationalsozialisten, vor denen sie zwei Jahre später nach Frankreich fliehen musste.

Was im Auftrag der Farm Security Administration in Amerika Mitte der Dreißigerjahre als organisiertes Großprojekt veranstaltet wurde, die sozialkritische Dokumentation amerikanischer Lebensbedingungen, ist in Europa von Fotografinnen wie Gisèle Freund geleistet worden – so sind ihre Fotos aus den „Depressed Areas“ Englands und Frankreichs heute aus dem öffentlichen Gedächtnis nicht mehr wegzudenken.

Doch es waren vor allem die persönlich gefärbten Porträts der Maler, Künstler, Intellektuellen, aus dem Paris der Zwanziger- und Dreißigerjahre, die ihren Ruhm festigten. Nie verletzend, wie es die Fotos einer Diane Arbus bis zum Schock waren, und durch Verwendung von Farbfilmen auch heute noch von einer geradezu unheimlichen Präsenz, hielt die Freund all die fest, die ihr wichtig waren.

Anita Neugebauer erinnert sich: „Ihr waren die Gespräche über die Literatur, die Kunst und natürlich die Fotografie, die sie während der Foto-Sessions mit den Leuten führte, fast wichtiger als die Fotos selbst.“ Diese Gespräche ohne Worte klingen auch nach dem Tode Gisèle Freunds nach.